Slagmuylder Festwochen
Christoph Slagmuylder, seit der Ausgabe 2019 für die Wiener Festwochen verantwortlich, übergibt im Sommer an seinen Nachfolger Milo Rau.
APA/HANS PUNZ

Es waren vier schwierige Jahre für den Intendanten der Wiener Festwochen: Erst musste er den Karren aus dem Dreck ziehen, dann kam die Pandemie: Erst heuer konnte der belgische Festivalmacher Christophe Slagmuylder endlich zeigen, welche Töne so eine Veranstaltung alle anschlagen kann: laute und leise, politische und poetische und daneben mit einer eigenen Kabarettreihe auch noch einige komische. Das Zirzensische ist zwar weniger seins, mit einigen richtig großen internationalen Produktionen zeigte Slagmuylder aber seinen Kritikern, dass er sich auf weit mehr als auf kleinere Formate versteht.

Die diesjährigen Festwochen waren in all ihrer genreübergreifenden Vielgestaltigkeit aus einem Guss – und sie lockten wieder jenes spezielle Festivalpublikum an, das bereits verloren schien. In Wien hatte der scheidende Slagmuylder wohl nicht seine beste Zeit, den Festwochen hat seine Intendanz aber mehr als gutgetan. Jetzt ist Nachfolger Milo Rau dran.

Dramaten

Exzellent

Christophe Slagmuylders Festhalten am Begriff der "Exzellenz" glich in seiner letzten Festwochen-Saison einer Schlinge, die von eigener Hand ausgelegt war. Prompt ging der Festivalmacher in die selbstgestellte Falle. Exzellenz meint immer die Heldinnen und Helden von gestern.

Manche taten die Vielgestaltigkeit seines Programms mit dem Hinweis ab, dass es vielleicht lehrreich sei, Bergs Lulu in einer Interpretation der Künstlerin Marlene Monteiro Freitas zu erleben. Oder kopfüber in die Digitalwelten von Susanne Kennedy einzutauchen. Doch wo, so der Tenor solch vorsätzlich Enttäuschter, sei der neue Peter Zadek zu finden, der neue Bondy?

Bei Exzellenz handelt es sich um keinen exakten Begriff. Wer das sozialdokumentarische Theater Alexander Zeldins in Betracht zieht, erhält einen Eindruck von der Durchdringung des Theaters mit Wirklichkeit. Die Wiederbegegnung mit Simon McBurneys Erzähltheater verbürgte ebenso "Exzellenz" wie die Kunst Julien Gosselins. Der Verweis auf die Herrlichkeit des Regietheaters hat sich überlebt. Wer will, kann in Milo Raus Neudeutung der Antigone eine Fortführung solcher Traditionen erblicken. Nur dass seine Unternehmung eben nicht genialisch ist, sondern heterogen, kooperativ in der Anlage, multikulturell im Realitätscheck.

Lulu Festwochen
Alban Bergs "Lulu", inszeniert von der kapverdischen Choreografin Marlene Monteiro Freitas und mit dem RSO Wien, war heuer eine der heiß erwarteten großen Produktionen.
Monika Rittershaus

Spartenübergreifend

Ein neuer Blick auf Altbewährtes? Die Zusammenführung von Genres galt auch bei den Festwochen als potenzieller Ausweg aus der Routine. Der japanische ­Regisseur Toshiki Okada, Advokat puristischer, enigmatischer Theaterabende, versuchte bei der diesjährigen Eröffnungspremiere zusammen mit seinem Landsmann, dem Komponisten Dai Fujikura, die Verschmelzung zwischen Theater und Musik auszuarbeiten. Die Produktion Verwandlung eines Wohnzimmers, mit dem Klangforum Wien erarbeitet, hinterließ jedoch den Eindruck einer gewissen Spröde.

Ähnliches hatte früher erfolgreich Marlene Monteiro Freitas bei Bacantes – Prelúdio para uma Purga versucht, indem sie Performer, Musiker und Instrumente tanzen ließ. Dass die Genres miteinander auch auf sehr hohem Niveau fremdeln können, zeigte Freitas heuer bei Alban Bergs Oper Lulu (Bild). Ihre choreografisch angelegte Regie war subtil und präzise, jedoch blieb sie ein virtuos getanztes Rätsel mit Distanz zum Operninhalt.

Politisch

Der politischste Abend dieser Festwochen kam vom zukünftigen Intendanten: Mit seiner Antigone im Amazonas zeigte der Schweizer Theatermacher Milo Rau, wohin es in Zukunft wohl (teilweise) gehen wird. Der Theaterabend selbst war nur der letzte Schritt in einem langen Prozess aus Recherche, Demos, öffentlichen Reden und Interviews, in denen Aktionismus mehr zählte als das ausgefeilte Bühnenereignis. Ersteres war glücklicherweise kein Merkmal der Festwochen, auch wenn diese mit einigen hochpolitischen Projekten punkten konnten: Marina Davydova etwa spürte den Zerwürfnissen innerhalb der Nationalstaaten der UdSSR nach und verband dies mit ihrem eigenen, zu Herzen gehenden Schicksal, Mikheil Charkviani bereitete in Exodus 15 Fluchtschicksale aus. Auf die (gesellschafts-)politische Themenlage dieser Tage reagierten aber auch eine Reihe anderer Inszenierungen, nicht zuletzt das einzige Kinderprojekt: Angesichts des diversen Casts von Pinocchio blieb einem regelrecht die Spucke weg.

Festwochen Gosselin
Julien Gosselin verblüffte mit "Extinction", einer heterogenen, dreiteiligen Bühnenarbeit, die Arthur Schnitzler und Thomas Bernhard verknüpfte.
Simon Gosselin

Neu und innovativ

Dass die Wiener Festwochen in diesem Jahr gleich mit sieben Welturaufführungen aufwarten konnten, mag dem pandemiebedingten Produktionsstau geschuldet gewesen sein. Für Neues und neue Namen steht die Ära Slagmuylder aber sehr wohl. Gleich zu Beginn 2019 brachte der Intendant den argentinischen Theatermacher Mariano Pensotti erstmals nach Wien, der heuer mit einer faszinierenden Arbeit wiederkehrte.

Viele weitere Künstlerinnen und Künstler gelten nachfolgend für Österreich als Neuent­deckung, darunter der britische Regisseur Alexander Zeldin und sein sozialpolitisch engagiertes Theater, die amerikanische Künstlerin Wu Tsang, die außergewöhnliche Performerin Phia Ménard oder die Belgierin Anne-Cécile Vandalem samt Kompanie.

Die Wiener Festwochen sind Österreichs State-of-the-Art-
Vorzeigefestival mit sachten Avantgardeansprüchen – die Erwartungen daran einzulösen, sprich international reüssierende Kunstschaffende auszumachen und zu verpflichten, ist
mit der diesjährigen Ausgabe vielfach gelungen. Die vielleicht spannendste neue Bekanntschaft konnte man heuer mit dem gehypten französischen Theaterkünstler Julien Gosselin machen. (Margarete Affenzeller, Stephan Hilpold, Ronald Pohl, Ljubisa Tosic, 17.6.2023)