Adern Landestheater Tirol Wentz
Schwierige Lagen (Hanna Binder als Aloisia) im Stück "Adern" von Lisa Wentz am Landestheater Tirol.
Birgit Gufler

Eine Zeitlang sah es so aus, als wäre der Text im Theater nicht mehr allzu wichtig. Ist er aber doch. Nachdem jahrelang Performance das Gebot der Stunde war – der Körper, die Show, die Musik –, tritt ein neu entfachtes Interesse an Sprache und Sprechweisen zutage. Das beste Beispiel dafür ist die 1995 in Tirol geborene Autorin Lisa Wentz, deren Stück Adern erfolgreich läuft: Es wurde im Vorjahr am Burgtheater uraufgeführt und ist derzeit in einer Neuinszenierung am Landestheater Tirol zu sehen.

Bemerkenswert ist, dass mit dem Text-Aufwind auch ein neu gefasstes Vertrauen in die alte dialogische Figurenrede mit einherweht. Immerhin war das Dialogtheater in der Postdramatik ab Elfriede Jelinek einigermaßen unter die Räder gekommen – trotz erfolgreicher Dramatiker wie Ewald Palmetshofer, Thomas Köck oder Ferdinand Schmalz, die auf jeweilige Weise identifikatorisches Sprechen unterlaufen.

Burgtheater Wien

Adern also von Lisa Wentz horcht dem Leben einer Frau und ihres Ehemanns im Tirol der Nachkriegszeit in Horváth’schen Stilleschleifen hinterher. Wentz ist nicht die Einzige, die sich das Dialogische rückerobert. In diversen Zuschnitten tun dies eine Reihe junger Schreibender, viel akklamiert sind etwa Selma Matter, Sivan Ben Yishai, Enis Maci, Thomas Perle, Nele Stuhler oder Jan Koslowski.

Netflix heizt allen ein

Zu ihnen zählt auch die Oberösterreicherin Teresa Dopler, deren Figuren zwar Prototypen heutigen Lebens gleichen, zugleich aber jeder qualitativen Individualität auf erschreckende Art entbehren (Das weiße Dorf, Monte Rosa). Eine verblüffende Tonlage schlagen auch die Sprechenden in den Texten der Wienerin Miroslava Svolikovas an, die sich gar keine menschliche Hülle mehr überstreifen, sondern felsenfest behaupten, zum Beispiel Tetrissteine (Rand) zu sein und als solche rege am Leben teilzuhaben.

Was also müssen Theatertexte heute bieten, um nicht von der dicken Walze der Romandramatisierung überrollt zu werden? Texte für die Bühne sind dann wertvoll, wenn sie "nicht nur abbilden, sondern im Sinn der Poesis auch herstellen", sagt Edith Draxl, die das Drama Forum Graz leitet, eines der wichtigsten Mentoringprogramme für Szenisches Schreiben in Österreich. Es vergibt alle zwei Jahre den renommierten Retzhofer Dramapreis, der heuer sein 20-Jahr-Jubiläum feiert und der seit 2021 in Zusammenarbeit mit dem Next Liberty und dem Theater am Ortweinplatz auch in der Kategorie für junges Publikum existiert.

Romane, Romane

Im Unterschied zu Prosaformen gehe es laut Draxl bei Theatertexten "um das Spürbarmachen von Sprechweisen und um ein Reflektieren darüber, wer warum auf welche Weise spricht". Entscheidende Fragen einer kritischen Betrachtung der Welt in Zeiten medialer Dauerbefeuerung und propagandistischer Öffentlichkeiten.

Edith Draxl Retzhofer
Edith Draxlleitet den Kulturverein UniT und das dazugehörige Drama Forum, das biennal den Retzhofer Dramapreis vergibt.
Wolfgang Rappel

Dennoch stehen die Zeichen weiterhin auf Romandramatisierungen. Netflix heizt dem Theaterbetrieb gehörig ein und forciert eine Plotgetriebenheit, die die deutsche Autorin Ulrike Syha einmal zynisch kommentierte: "Ich schreibe jetzt einen Roman, damit ich am Theater aufgeführt werde."

Dass neue Stücke oftmals so erschreckend wenig Resonanz finden – ein Faktum, das auch Theaterverlage bestätigen –, liegt in den Marketingüberlegungen des Betriebs. Im Windschatten der Pandemie haben Verunsicherung und Konservativismus Fuß gefasst, Bühnen gerieten unter Druck. Angesichts dessen sei das Theater "mutlos" geworden, so Draxl. "Früher wurden deutlich mehr zeitgenössische Texte aufgeführt und vor allem nachgespielt."

Boulevardisierung spürbar

Nun aber sollen die Häuser wieder voll werden, und das klappt mit Altbewährtem besser als mit unbekannten Titeln. Auch ist die Freiheit eines Romanstoffs bequemer. Wie sinnvoll es ist, die neueste Yasmin-Reza-Epik zu dramatisieren, ist unter diesen Gesichtspunkten zweitrangig. Eine Boulevardisierung sei jedenfalls spürbar, so Draxl.

Wird angesichts einer im deutschen Sprachraum gut ausgebauten Förderlandschaft nicht schlichtweg zu viel Text produziert? Es wäre angesichts der segmentierten Gesellschaft, in der wir leben, besser, zu fragen, wie ich herausfiltern kann, was gebraucht wird.

"Es ist eine breite Basis notwendig, damit sich etwas Großes entwickeln kann", sagt Draxl. Ihrer praxisnahen Beobachtungen zufolge kommen die revolutionärsten Annahmen derzeit aus jener Theaterliteratur, die sich nicht im Geringsten um die Machbarkeit schert.

Der Retzhofer Dramapreis 2023 wird am 25. Juni verliehen – im Rahmen des Dramatiker:innenfestivals, das morgen, Mittwoch, in Graz startet. (Margarete Affenzeller, 20.6.2023)