Der Zellbiologe Anthony Hyman hat mit der Entdeckung der Kondensate wichtige Grundlagen für die Erforschung von Alzheimer und ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) gelegt. Zum 20-jährigen Jubiläum des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) war er in Wien, wo ihn DER STANDARD zum Interview bat. Neben dem Blick in die Zukunft der Zellforschung gewährte Hyman auch einige persönliche Einblicke in seinen Werdegang

Zellbiologe Anthony Hyman.
Zellbiologe Anthony Hyman ist überzeugt, dass Forschung der beste Job der Welt ist. Das will er auch Studierenden mitgeben.
Sven Döring / Agentur Focus

STANDARD: Sie haben vergangenen September zwei bedeutende Preise erhalten: den Europäischen Wissenschaftspreis der Körber-Stiftung mit einer Million Euro und den Breakthrough Prize in Life Science gemeinsam mit Ihrem Kollegen Clifford Brangwynne mit drei Millionen Dollar. Wofür setzen Sie das Preisgeld ein?

Hyman: Wir haben neue Ideen entwickelt, wie Zellen sich organisieren und was passiert, wenn etwas falsch läuft. Ein Mensch lebt 60 Jahre gut, und plötzlich bekommt er Alzheimer oder ALS. Was passiert da? Wie unterscheidet sich eine kranke Zelle von einer gesunden? Unsere Entdeckung der Kondensate im Jahr 2009 hat eine mögliche Erklärung geliefert. Daran werden wir weiter forschen.

STANDARD: Sie haben damals sogenannte "P granules" aus RNA und Proteinen in einzelligen Embryonen des Fadenwurms C. elegans untersucht. Warum haben Sie etwas entdeckt, das andere nicht gesehen hatten?

Hyman: Das ist immer so bei der Grundlagenforschung: Man hat ein Ziel, aber man muss auch links und rechts schauen, ob es dort etwas Interessantes gibt. P granules sind zuerst gleichmäßig im Embryo von C. elegans verteilt. Dann sammeln sie sich auf einer Seite, und die Zelle teilt sich. Wenn sich die P granules nicht formieren, entsteht ein Wurm ohne Keimzellen. Wir wollten diesen Mechanismus verstehen. Dabei haben wir bemerkt, dass die P granules wie Tropfen aussehen. Bis dahin dachte man, dass sie solide sind. Und so haben wir diese Idee entwickelt, dass der Prozess durch Protein-Kondensate angetrieben wird.

STANDARD: Was bedeutet diese Tropfenform?

Hyman: Im flüssigen Zytoplasma einer Zelle befindet sich eine Flüssigkeit aus Proteinen. Die Tropfen entstehen bei der Phasentrennung der beiden Flüssigkeiten. So etwas kennen wir zum Beispiel auch von Wolken: Wenn sich die Temperatur oder der Luftdruck ändert, kondensieren die Wassermoleküle plötzlich und bilden Wolken. Oder wenn Sie eine Vinaigrette für den Salat herstellen. Man vermischt sorgfältig Öl und Essig, dann kommen die Gäste, und nach der Begrüßung haben sich Öl und Essig wieder getrennt. Wir haben gesagt, vielleicht ist Phasentrennung der Grund dafür, dass sich diese tropfenförmigen Kondensate entwickeln. Aber wir mussten herausfinden, ob das nur für C. elegans gilt oder auch für andere Modelle.

STANDARD: Welche Bedeutung könnte das für eine Zelle haben?

Hyman: Diese Kondensate haben keine Membran. Sie bilden sich dynamisch und lösen sich rasch wieder auf. Der Vorteil dieses Mechanismus ist, dass die Zelle sehr schnell auf Veränderungen reagieren kann.

Alzheimer-Patient versucht andere Patienten auf einem Foto zu erkennen.
Hyman hat einen wichtigen Beitrag zur Alzheimer-Forschung geliefert.
APA/AFP/CLEMENT MAHOUDEAU

STANDARD: Und wenn dieser Mechanismus in Nervenzellen gestört wird, kann es zu Krankheiten wie Alzheimer oder ALS kommen?

Hyman: Eine Zelle ist komplex, sie muss alles steuern. Wenn das System nicht mehr dynamisch ist, wenn sich die Kondensate aus irgendwelchen Gründen verhärten und nicht mehr auflösen, können schädliche Ablagerungen entstehen.

STANDARD: Was hat eigentlich dazu geführt, dass Sie sich für Zellbiologie interessiert haben?

Hyman: Ich war nicht gut in der Schule und ein bisschen verträumt. An der Uni hatte ich das Glück, dass ein Professor einen Kurs in Zellbiologie angeboten hat. Ich war fasziniert, denn ich habe in meiner Jugend Fahrräder und Autos repariert, und die Zelle hat so viele kleine Maschinen, die wollte ich erforschen.

STANDARD: An Ihrem Institut spielt Technik eine wichtige Rolle.

Hyman: Ja, wir haben dieses Institut in Dresden nach der Wende gegründet und haben entschieden, dass wir viel mit Physik machen wollen. Unser Glück war, dass die Max-Planck-Gesellschaft dort gleichzeitig das Institut zur Physik komplexer Systeme eingerichtet hat. Frank Jülicher und Kollegen unseres Instituts haben zusammen Ideen entwickelt, wie Physik helfen kann, die Zellbiologie zu verstehen. Es heißt: Discovery comes to prepared mind. Wir waren vorbereitet, und ich glaube, deswegen haben wir die Kondensate erkannt.

STANDARD: Was ist nötig, um in der Forschung Erfolg zu haben?

Hyman: Ich sage immer zu meinen Studierenden: Wir haben den besten Job der Welt. Wir werden dafür bezahlt, unseren Wissensdurst zu stillen. Man braucht Neugierde, es ist viel Handwerk im Labor erforderlich, und es ist ein sehr, sehr langer Prozess. Ob man etwas Besonderes findet oder nicht, ist Glückssache. Aber man bekommt jeden Tag kleine Ergebnisse, das muss man genießen.

STANDARD: Welche Rolle spielen Förderungen?

Hyman: Ohne stabile Förderkultur geht es nicht. Die Wissenschaft will natürlich immer mehr Geld haben, aber am meisten will ein Wissenschafter Ruhe haben. Wenn man keine Ruhe und Stabilität hat, kann man nicht denken.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Situation des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) ein? Sie waren ja zehn Jahre lang Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats.

Hyman: Es war eine sehr gute Entscheidung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften vor 20 Jahren, das IMBA zu gründen und mit dem IMP, dem Research Institute of Molecular Pathology, zu verknüpfen. Es ist unglaublich, welch weltweit bedeutende Forschung von diesem kleinen Institut kommt. Und Wien hat eine hohe Lebensqualität, die von Forschenden sehr geschätzt wird.

STANDARD: Was war für Sie entscheidend, 1999 nach Dresden zu gehen?

Hyman: Ich war damals in Heidelberg und wollte nach England, aber ich hatte so ein Abenteuergefühl. Wir wollten Dresden zur weltführenden Wissenschaftslandschaft hochpushen. Die vergangenen 25 Jahre waren eine sehr schöne und interessante Zeit, alles hat sich neu entwickelt.

STANDARD: Was erhoffen Sie sich von der Zukunft?

Hyman: Wir befinden uns auch jetzt in interessanten Zeiten als Forschende, die künstliche Intelligenz zum Beispiel wird uns viel helfen. Ich freue mich sehr für die nächste Generation, dass sie so viele Möglichkeiten hat. (Sonja Bettel, 15.7.2023)