Im Gastblog schreibt Sexualberaterin Nicole Siller über das Neuentdecken von körperlichen Bedürfnissen im Miteinander.

Ich erlebe immer wieder, wie sich verändernde beziehungsweise verschiedene Bedürfnisse bei der Sexualität zu einem großen Stolperstein der Beziehung werden können. Dies wurde auch bei meinem Aufruf zu Fragen aus der Community thematisiert, etwa in Hinblick auf unterschiedlicher werdenden Erwartungen an Sex nach vielen Jahren in einer Partnerschaft.

Wie nahe liegt es, bei unterschiedlichen Erwartungen die andere Person als schwierig oder "ungenügend" zu empfinden, die vermeintlichen Fehler und das Trennende in den Fokus zu rücken! Hier gibt's Anregungen für Lösungen.

Lebendig bleiben

Es ist nicht neu, dass sich Beziehungen wie auch wir als Menschen mit unseren Persönlichkeiten und so auch unseren Sexualitäten mit den Jahren verändern. Beispielsweise weil wir nicht mehr das unbeschwerte Leben als Studenten und Studentinnen zu zweit genießen, fasziniert voneinander sind, sondern Alltag eingekehrt ist, wir einander halbwegs kennen, in Berufsalltagen eingespannt sind, gemeinsam Verpflichtungen und Verantwortung teilen, sich unsere Leben oftmals mit Kindern komplett umstellen, oder auch, weil wir manchmal einfach müde sind.

Paar sitzt im Bett mit dem Rücken zueinander
Das Leben und das Miteinander verändern sich – wichtig für aufrechte Nähe zur anderen Person ist, durch Veränderungen miteinander zu gehen.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Viele Paare nehmen ihre Beziehung, die Basis von vielem, als "selbstverständlich", ein bisschen wie "Inventar", nur der gute Sex, der soll bitte von alleine und spontan immer wieder passieren. Tut er auch oft. Bis er aufhört oder ein Partner unzufrieden wird.

Unterschiedliche Bedürfnisse und Erwartungen

Wenn sich Bedürfnisse und Erwartungen immer mehr unterscheiden, kann es einerseits daran liegen, dass Menschen sich mitsamt den eigenen Bedürfnissen, Gelüsten, Fantasien, Zärtlichkeiten, Kinks und vielem anderen mehr mit der Zeit besser selbst kennenlernen beziehungsweise entfalten. Manchmal ermöglicht erst die stabile Sicherheit einer liebevollen Beziehung, sich mehr eigene Erwartungen und Bedürfnisse einzugestehen.

Andere zeigen oder wissen von Beginn an kaum, was sie eigentlich wirklich wollen, sondern machen einfach mit, zeigen sich also wenig als eigenes sexuelles Wesen und haben dann darauf irgendwann keine Lust mehr, weil es ja auch nicht intrinsisch motiviert war. Hier fehlt oft das Wissen oder auch das Gespür dafür, wie Erotik und Sexualität wirklich Lust und Freude machen können. Manche Menschen haben wenig sinnliche Verbindung zu sich selbst, funktionieren gut, erfüllen gerne, spüren sich jedoch kaum, schon gar nicht diese sexuelle Lust. Warum und woher auch immer dies kommt, es gibt Wege, die eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnisse wonniglich kennenzulernen und so auch zu verbessern. Wenn man es selbst möchte.

Dieses "Mitmachen" hat einfach keine lustvolle Haltbarkeit, für niemanden. So mancher Mensch ist beschämt, wenn er hört, dass der Partner oder die Partnerin bei etwas mitgemacht hat, was er oder sie nicht wollte, und kaum das gezeigt hat, was er oder sie sich wünscht.

Raus aus der Sprachlosigkeit

Viele Menschen reden kaum über persönliche Sexualität miteinander, oder viel zu spät, wenn es nicht mehr einladend gelingt, sondern sich viel zu viel Frust und Anschuldigungen aufgestaut haben. Warum? Vielleicht, weil es ja damals irgendwann mal eh von alleine super war? Aus Angst, die andere Person zu verletzten?

Erlauben Sie mir hier eine Frage: Was wäre Ihnen lieber? Wenn Sie ungefragt "geschont" werden und nicht wissen, was Ihr Partner oder Ihre Partnerin wirklich möchte, oder wenn Sie beide ehrlich miteinander sind und miteinander versuchen, Ihrer beider Sehnsüchte und Wünsche so gut es geht zu integrieren, selbst wenn Sie sich teilweise eingestehen müssten, dass Sie nicht alles auch super antörnend und gut finden müssen?

Schweigen Sie aus Scham?

Ja, Sexualität ist noch immer für viele Menschen ein heikles Thema, muss es aber wirklich nicht sein. Sexualität ist im Grunde etwas ganz Selbstverständliches, ein gestalt- und veränderbares Grundbedürfnis, das leider von diversen Religionen und gesellschaftlichen Strukturen einengend und negativ bewertet oder verurteilt wurde. Dabei: Sehr, sehr viele von uns sind durch Sex und Orgasmen entstanden – so what?! No sex, no life!

Herzliche Einladung

Bitte finden Sie Wege,

  • sich im ersten Schritt in der aktuellen Situation Zeit und Raum zu geben, um sich mal selbst gut und mit allen Sinnen zu spüren, für sich herauszufinden, was fehlt und wonach Sie sich sehnen.
  • dies im zweiten Schritt mal für sich selbst in Worte zu fassen. Konstruktiv, positiv, also ohne Verneinungen und Verallgemeinerungen, zukunftsorientiert, skalierbar. Ja, diese einfachen, aber unsexy Hints kennt jede Person, die sich mal mit Kommunikations- oder Konfliktmanagement befasst hat. Es gibt Struktur, die auch in der Kommunikation über Sexualität hilft.

Manchmal hilft Reden

Jetzt wissen Sie ja schon, wie es freudiger, lustvoller und intensiver für Sie miteinander werden könnte. Laden Sie Ihren Partner oder Ihre Partnerin ein, dies ebenfalls zu tun. Tauschen Sie sich aus.

Wenn Sie etwas verändern wollen, schaffen Sie Gelegenheiten, in denen Sie sich beide wohlfühlen. Erzählen Sie von sich, Sie haben sich ja schon mit Ihren Bedürfnissen befasst. Fragen Sie nach, hören Sie mit ehrlichem Interesse und Neugier zu. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch. Wollen Sie ehrlich verstehen, vielleicht auch nachvollziehen und spüren, was der andere möchte? Oder formulieren Sie schon Ihre eigenen Antworten, während Sie vermeintlich zuhören? Das ist ja durchaus üblich bei vielen Gesprächen. Echtes Zuhören und Teilhabenwollen, also mit der Aufmerksamkeit beim anderen zu sein, verbindet.

Was es noch zu entdecken gibt

Besprechen Sie nicht mehr das Trennende, sondern besser das, was Sie beide möchten, worauf Sie Lust haben. Dehnen Sie miteinander Ihre Vorfreude und Neugier, laden Sie einander ein in die eigenen Bedürfniswelten, das macht wirklich einen Unterschied. Einen Versuch ist es wert, mit positiverem Fokus wieder ins Tun zu kommen. Nur reden hilft auch nicht, zerreden schon gar nicht. Kommen Sie ins Tun, ins Probieren, vielleicht lachen Sie mal wieder befreiend miteinander, weil nicht gleich alles so perfekt klappt?

Sollten Sie ganz auseinanderliegen oder der Frust zu groß sein, können natürlich fundierte Therapie beziehungsweise gute Beratung helfen, und sei es, um eine wertschätzende Trennung gut hinzubekommen. Ich wünsche gerade in diesem Fall wertschätzenden Austausch oberhalb der Gürtellinie. Lassen Sie die ewigen Vergleiche mit anderen, die angeblich immer den bunteren und mehr Sex haben, es geht ja um Sie beide, die da gemeinsam gelandet sind und oft gemeinsam wieder weitergehen wollen, hin zu mehr genussvoller Sexualität. (Nicole Siller, 23.6.2023)