Der deutsche Politikwissenschafter Christoph Bieber saß schon selbst im Rundfunkrat des öffentlich-rechtlichen WDR. An den ORF-Gremien gäbe es aus deutscher Sicht noch einiges zu verbessern im Sinne von Staatsferne und Unabhängigkeit, sagte Bieber im Gespräch mit dem STANDARD. Am Freitag spricht er bei einer Tagung des Presseclubs Concordia in Wien über "die Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Rundfunkgremien".

Politikwissenschafter Christoph Bieber war Mitglied des WDR-Rundfunkrats.
Michael Schwettmann

Verfassungsgericht prüft

Der österreichische Verfassungsgerichtshof prüft gerade auf Antrag des Landes Burgenland, ob Stiftungsrat und Publikumsrat des ORF zu politiknah besetzt werden, um dem Gebot der Unabhängigkeit im Bundesverfassungsgesetz Rundfunk zu entsprechen. Derzeit entsenden Bundesregierung und Bundesländer je neun Mitglieder in den ORF-Stiftungsrat, Parteien im Nationalrat insgesamt sechs, ebenso viele der ORF-Publikumsrat, der mehrheitlich von Bundeskanzler oder Medienministerin besetzt wird.

Der Stiftungsrat entscheidet über das ORF-Führungspersonal, über die ORF-Budgets und große unternehmerische Fragen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, seit 2019 liegt die Mehrheit dort allein bei ÖVP-nahen Mitgliedern. Der Presseclub Concordia fordert – wie zuletzt auch der Zeitungsverband – eine Entpolitisierung der ORF-Gremien. Am Freitag lädt der Rechtsdienst der Concordia zu einer international besetzten Konferenz über die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bei der Christoph Bieber referiert.

Unabhängigkeit "etwas kompliziert"

STANDARD: Kann es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk tatsächlich unabhängige Gremien geben?

Bieber: In der Tat ist das etwas kompliziert. Durch die Konstruktion des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wird es immer eine Verbindung zu politischen Institutionen geben. Die Frage ist: Wie gut organisiert und kontrolliert man das, damit sich auch durch den Widerstreit unterschiedlicher Positionen in den Gremien insgesamt Unabhängigkeit realisieren lässt?

STANDARD: Sind Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten als eine Art kleines Parlament zu verstehen?

Bieber: Ich finde den Vergleich der Rundfunkgremien mit Parlamenten nicht so verkehrt. Auch in den Parlamenten sehen wir, dass sich eine Vielfalt von Akteuren und Gruppen wiederfindet, die in ihrer Gesamtheit die Gesellschaft abbilden sollen.

STANDARD: Im Stiftungsrat des ORF gibt es auch gleich parteipolitische Fraktionen, Freundeskreise genannt. Wie geht das mit der Idee von parteipolitischer Unabhängigkeit zusammen?

Bieber: In Deutschland ist das ein wenig verklausulierter, da gibt es schwarze, rote und graue Freundeskreise, ohne klare Parteireferenz. Aber die Politisierung erfolgt ja früher, also muss man auch früher ansetzen, nämlich bei der Bestellung der Gremien.

STANDARD: Im ORF besetzen Bundesregierung, Bundesländer, Parteien und Publikumsrat den Großteil der 35 Mandate im Stiftungsrat, und im Publikumsrat bestimmten der Bundeskanzler oder eine Medienministerin die Mehrheit.

Bieber: Ja, in Österreich ist das anders geregelt als in Deutschland. Hier besetzen konkret im Gesetz genannte Organisationen Mandate in Aufsichtsgremien, gelegentlich können sich Organisationen auch um einen Sitz bewerben. In Österreich nennt das Gesetz bestimmte Interessengebiete, und der Kanzler oder ein Medienminister suchen die Personen dann aus Vorschlägen von Organisationen aus. Da haben wir wieder eine Verbindung zur Politik, und das bedeutet natürlich ein Einfallstor für Politikeinfluss.

STANDARD: Völlig politikfrei werden aber auch die deutschen Rundfunkräte nicht besetzt.

Bieber: In Deutschland versucht man ganz allmählich aufzubrechen, dass nicht zu viele politische Akteure die Möglichkeit haben, sich in den Gremien breitzumachen. Das ist auf jeden Fall der richtige Ansatz. Vollständig kann man die Gremien aber nicht lösen von Verbindungen zu Politik und Gesellschaft – der Staat ist Garant und Gefahr zugleich.

STANDARD: Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat 2014 ein Limit für staatliche oder staatsnahe Besetzungen von Rundfunkgremien eingezogen.

Bieber: Seither darf nur noch ein Drittel der Mitglieder von Rundfunkgremien der sogenannten Staatsbank angehören – diese Regel wird auch befolgt. Aber in Deutschland wie in Österreich kann man natürlich ein Parteibuch haben, wenn man nicht formell auf der Staatsbank sitzt, sondern von gesellschaftlichen Organisationen oder Kulturinstitutionen in die Gremien entsandt wird. Zusätzlich wird versucht, explizit unabhängige Elemente einzubauen, zum Beispiel Bürgermandate ohne Organisationen im Hintergrund. Das ist eine Antwort auf die Entwicklung, dass die Gremien über lange Zeit wirklich stark im Griff politischer Akteure waren.

STANDARD: In Österreich kamen aus mehreren Richtungen – von ORF-Journalisten, Liberalen, Sozialliberalen – Vorschläge, die Gremien doch mit per Los gezogenen Menschen aus dem Volk wie bei Schöffengerichten zu besetzen. Was halten Sie davon?

Bieber: Die Idee von "Rundfunkschöffen" halte ich für durchaus interessant, allerdings ist das aus meiner Sicht eher eine zusätzliche Option, die man punktuell und zu bestimmten Themen oder Ereignissen befragen könnte. Und man darf hier nicht unterschätzen, dass sich der Auswahlprozess sehr aufwendig gestalten kann, wie sich etwa bei ähnlich konstruierten Bürgerräten gezeigt hat.

STANDARD: Im ORF-Gesetz gibt es keine Obergrenze für staatsnah besetzte Mandate – das wären im ORF-Stiftungsrat wahrscheinlich etwa zwei Drittel der Sitze.

Bieber: Hier ist sicher etwas zu verbessern im Sinne von Staatsferne und Unabhängigkeit – zumindest, wenn man der Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe folgt. Bei uns ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum ZDF nach einer vertrackten Intendantenwahl auch erst zehn Jahre her. Vielleicht brauchen Mediensysteme einen solchen Entwicklungsprozess bis hin zu einer Skandalisierung, die dann zu einer Korrektur führt. Dieses "Institutionenlernen" ist ein langwieriger Prozess.

STANDARD: In Österreich liegt gerade ein Prüfantrag eines Bundeslandes beim Verfassungsgerichtshof, ob die ORF-Gremien nicht verfassungswidrig politiknah besetzt werden.

Bieber: Das war die Situation vor zehn Jahren in Deutschland. Da war man an einem Punkt zu sagen: So geht es nicht weiter, der Zugriff der Staatsbank ist zu groß und eine ausreichende Staatsferne nicht mehr gegeben. Da ist das Bundesverfassungsgericht eingeschritten und hat Regelungsbedarf angemahnt.

STANDARD: Aber: In Österreich verbietet das Gesetz politischen Funktionsträgern, teils bis zu vier Jahre nach ihrem politischen Mandat, die Mitgliedschaft in den ORF-Gremien oder in der Geschäftsführung. In Deutschland sitzt schon einmal ein Ministerpräsident persönlich in Rundfunkgremien – oder mehrere.

Bieber: Das ist ein Punkt, der in Deutschland jedenfalls diskutiert wird. Regierungsmitglieder sitzen nur noch in seltenen Fällen in den Gremien, durchaus aber aktive Politiker, etwa medienpolitische Sprecher der Fraktionen. Sie bringen natürlich ihre Agenda mit, aber eben auch viel Sachverstand in die Rundfunkgremien. Das ist immer ambivalent. Aus der Mischung mit der Erfahrung und Kenntnis der Mitglieder aus der Mitte der Gesellschaft kann sich etwas Produktives ergeben. Das ist die Idee der Vielfalt, die in Deutschland auch zu sehr großen Gremien geführt hat. Die Komplexität der Gesellschaft kann man eben nicht mit fünf Leuten abbilden.

STANDARD: Deutschland diskutiert eine Politikerklausel für Rundfunkgremien?

Bieber: Unverträglichkeitsregeln, Karenzzeiten und Staatsferne sollten nicht nur mit Blick auf Gremien diskutiert werden, sondern auch bei der Besetzung von Leitungsfunktionen. Diese Diskussion haben wir jetzt mit der Bestellung von Ulrike Demmer zur Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg. Sie kommt aus dem Journalismus, war einige Zeit Regierungssprecherin und geht jetzt wieder in die Medien. Bei flüchtiger Draufsicht sieht das nach einer Politbesetzung aus. Das ist an dieser Stelle zu kurz gesprungen. Frau Demmer ist keine Politikerin, sie ist Journalistin. Sie war Regierungssprecherin in der Regierung Merkel, hat dort aber die SPD-Seite unter den Sprechern vertreten. Ganz so einfach ist es also nicht. Aber das sind Dinge, die ganz klar hinterfragt und geprüft werden sollten, wenn es um die Bestellung der Führungspositionen geht. Übrigens auch bei direkten Wechseln in Aufsichtspositionen bei privaten Medien oder in Führungspositionen bei Landesmedienanstalten.

STANDARD: Bringen Sie zur Konferenz am Freitag über die Möglichkeiten unabhängiger Rundfunkgremien ein Modell für die perfekte politikferne Besetzung mit?

Bieber: Ein perfektes Modell habe ich nicht im Gepäck. Aber den einen oder anderen Hinweis, worauf man schauen muss – Staatsferne, Gruppenferne, es braucht so etwas wie eine Obergrenze für politische Mandate, es braucht Karenzregelungen, Transparenzregelungen. Dynamisierung ist ein Punkt.

STANDARD: Was heißt das?

Bieber: In Deutschland gibt es in den Räten häufig sehr, sehr lange Mitgliedschaften, das führt zu einer gewissen Versteinerung. Man kann Mitgliedschaften begrenzen. Ein Nachteil ist: Da geht auch viel Wissen und Gedächtnis verloren. Mit der Dynamisierung geht auch eine Verjüngung als Ziel einher. Die könnte auch über politische Mandate in den Gremien kommen – ich habe einmal vorgeschlagen, die Fraktionen könnten statt ihrer medienpolitischen Sprecher doch auch Vertreter ihrer Jugendorganisationen entsenden.

STANDARD: Das könnte auch etwas andere Perspektiven auf die Medienwelt eröffnen.

Bieber: Wir brauchen generell mehr digitalen Sachverstand in den Gremien, nicht nur traditionellen Rundfunk-Sachverstand. Dazu könnten jüngere Mitglieder beitragen. Das ist in Deutschland auch ein strukturelles Problem: Es gibt wenige gesellschaftliche Organisationen zur Entsendung, die dem Internet und der digitalen Zivilgesellschaft zuzuordnen sind. Es ist schwierig, diese Medienentwicklung angemessen in den Gremien abzubilden.

STANDARD: Österreich stellt gerade auf einen Rundfunkbeitrag um, den alle zahlen müssen, zehn Jahre nach Deutschland. Das sorgt gerade für einigen Unmut gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Wie kann öffentlich-rechtlicher Rundfunk die offenbar nicht kleine, ablehnende Gruppe gewinnen und überzeugen, dass der Beitrag sinnvoll eingesetzt ist?

Bieber: Wir reden hier von so etwas wie einer Demokratieabgabe, denn öffentlich-rechtliche Medien sind ein wichtiger Teil demokratischer Infrastruktur. Das sind Investitionen in eine moderne Öffentlichkeit, die man erklären muss. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Demokratiequalität und öffentlich-rechtlichen Medien.

STANDARD: Wie erklärt man das?

Bieber: Man muss klar und transparent kommunizieren, was die Folgen einer solchen Demokratieabgabe für einen breiten öffentlichen Diskurs sind. Und man kann darauf verweisen, was passiert, wenn diese Säule einer funktionierenden Öffentlichkeit wegbricht. Dafür schaut man nach Polen, nach Ungarn, in die USA oder auch nach Großbritannien. In den USA gibt es keine öffentliche Medienfinanzierung, in Großbritannien wird sie eingeschränkt. In beiden Ländern unterstützt das Prozesse der Polarisierung. In Ungarn und Polen gibt es den direkten Zugriff auf öffentliche Medien mit schon jetzt weiterreichenden Folgen. (Harald Fidler, 22.6.2023)