Im Gastblog wirft Sexualberaterin Nicole Siller Aspekte auf, die dabei helfen können, sich selbst und die eigenen Wünsche sowie Bedürfnisse bei der Beziehungssuche zu verorten.

Über Wollen und Brauchen, Leidenschaft, Druck, Erwartungen, Muster, Overload und den Faktor Zeit in der Liebe. Ein Versuch motivierender Klärung, der viele Fragen aufwirft, die jede und jeder für sich selbst beantworten kann.

Ist Daten, um eine Beziehung zu finden, eine Frage des Alters? Eindeutig nein. Menschen suchen Beziehungen, in jedem Alter und aus unterschiedlichen Gründen. In den 30ern, 40ern oft auf der Suche nach oder mit Familienwunsch. Später, wenn die Karriere läuft, die Familienplanung abgeschlossen ist, bis ins höhere Alter, tendenziell mit dem Wunsch nach: jetzt aber bitte für immer. Ja, manche wollen einfach nur Sex, Selbstbestätigung, Erfolgserlebnisse jagen und den Kick erleben. Viele Menschen, die zu mir kommen, sind damit auf Dauer nicht wirklich glücklich. Dieses intensive Auf und Ab zwischen Hoffnung und Frust ist anstrengend. Beim Nachfragen geht es dann doch vielen Menschen um eine Lebensgefährtin oder einen Lebensgefährten, jemanden, der ins Leben passt, mit dem man sich entfalten und entwickeln kann, mit dem man das Leben mehrheitlich genießen kann, um Berührung, um ein Miteinander.

Paar, zwei ältere Männer, Date
Ein erstes Date kann schon viel über die andere Person und das mögliche Miteinander zeigen, doch sollte dieses Ereignis ohne Stress angegangen werden – und manchmal mit dem Fällen eines Urteils gewartet werden.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Was darf es sein?

Bei Singles, die zu mir kommen, geht es oft um die Klärung folgender Fragen: Was will ich wirklich, wie soll es sich anfühlen, und wie komme ich dorthin? Bin ich überhaupt (noch) beziehungsfähig? Ja, auf jeden Fall! Was ist mir wichtig, und weiß ich das selbst? Warum funkt es nicht sofort, und stehe ich mir auf dem Weg zu einer schönen Beziehung womöglich selbst im Weg? Was sonst noch auf dem Weg liegen könnte? Neugierde, Erfahrungen, Leichtigkeit, Leidenschaft, Lust und ganz viel Selbsterfahrung. Darf es also auch mal um Ausprobieren statt gleich um "alles" gehen?

Ein Paar, für immer?

Ja, klar, viele sind zu einem großen Teil von Erziehung und Gesellschaft geprägt, vielleicht auch dem Wunsch oder der Erwartung, wir finden die eine oder den einen und sind dann ein Leben lang glücklich. Ob die Eltern hier positive Rolemodels waren oder wir es eben jetzt "richtig", also besser als die Eltern machen wollen, sei dahingestellt. Die eine gute Zweierbeziehung fürs ganze Leben hat ja lange für viele funktioniert, heute lebt ein Gutteil der Menschen nicht mehr dieses Modell.

Wir können wählen, aber brauchen einander nicht mehr, um zu überleben, sind wirtschaftlich unabhängiger, leben länger, auch gesellschaftlich ist es einfacher, im sozialen Umfeld nach einer Trennung integriert zu bleiben. Obwohl spannenderweise viele Frauen erzählen, dass sie von befreundeten Paaren nach der Trennung nicht mehr eingeladen werden, während Single-Männer tendenziell integriert bleiben, ja sogar teilweise bald wieder verkuppelt werden (sollen). Warum ist das so für viele Frauen, und wie erleben Sie das?

Liebe auf den ersten Klick, äh, Blick

Viele Menschen wünschen sich beim Onlinedating recht rasch zu wissen, ob die andere Person eine Partnerin oder ein Partner sein könnte. Also quasi Klick und Liebe. Die Liebe auf den ersten Blick ist mehrheitlich eines – eine Illusion. Ja, circa ein Drittel der Menschen hat diese Liebe auf den ersten Blick erlebt, manchmal hält sie auch für immer. Manchmal sind es Funken, kein haltbares Feuer, jedoch Leidenschaft, Faszination und das Gefühl, sich selbst lebendig zu spüren. Liebe bleibt oft dann "übrig", wenn diese Leidenschaft auch Zuneigung, Intimität, Vertrauen, Sicherheiten und Fürsorge entwickelt. Liebe und Leidenschaft sind ja kein Widerspruch, Leidenschaft ist jedoch tatsächlich keine Garantie, dass eine gute Beziehung oder Liebe daraus wird.

Mittlerweile gibt es in der Psychologie vermehrt die Idee, dass diese intensiven Gefühle und unglaublichen Leidenschaften, denen wir uns "magnetisch angezogen" und "ausgeliefert" fühlen, dann entstehen, wenn in uns intensive Gefühle getriggert werden, die alte Unsicherheiten, Ängste, alte Verletzungen berühren, die dann anspringen, uns "binden". Aber keine Sorge, ich möchte Leidenschaft keinesfalls be- oder abwerten. Viele Menschen verwechseln jedoch Leidenschaft und Liebe

Wünsche an eine Beziehung

Ich bin immer wieder erstaunt, wie wenige Menschen sich selbst klarmachen, wie eine neue Beziehung aussehen soll. Ich höre von Menschen, die erzählen: Hauptsache, da ist jemand, "sie oder er soll mich glücklich machen", dazu später mehr. Da wird oft innerhalb von wenigen Tagen viel Commitment oder sogar so etwas wie "Alltag" versucht zu leben. Unbewusst wird quasi da angeknüpft, wo die letzte Beziehung noch gut war – ohne wahrzunehmen, wer der neue Mensch wirklich ist, welche gemeinsamen Wünsche und Erwartungen gelebt werden wollen, die für beide passen. Ich bin relativ sicher, hier geht es oft mehr um Selbstbestätigung oder darum, in der eigenen Komfortzone zu bleiben, als um ein echtes neugieriges Kennenlernen. Dabei kann es doch Freude machen herauszufinden, ob es ein Wir geben kann, das sich zu etwas Einzigartigem entwickeln könnte.

Manchmal braucht es etwas Ausdauer

Es tut manchmal weh zu beobachten, wenn jemand auf der Suche ist und sich von einer oder ganz wenigen unglücklichen Begegnungen gleich ganz entmutigen lässt. Bitte nicht vergessen: Der eigene Wert, die eigene Liebenswürdigkeit hängt keinesfalls von Menschen ab, die uns noch gar nicht kennen, nicht guttun oder nicht zu uns passen!

Andere Menschen daten, mit alten Filterbrillen oder hinderlichen Mustern, ganz ohne klare Wünsche, wie eine wohltuende Beziehung aussehen soll – viele holen sich traurigerweise auf dem laufenden Band die Bestätigung: Für mich passt eh niemand. Da wird quasi jedes Date mit dem Filter "Finde den Fehler!" abgehakt, das kann echt frustrieren. Ob von einem selbst oder vom potenziellen Partner, von der potenziellen Partnerin in dieser Begegnung, ob nach ein paar Treffen und (hoffentlich gutem!) Sex oder ohne, ist Geschmackssache.

"Coole" Dates

Viele finden es auch echt cool, gar nicht zu wissen, was sie wollen. Nur nicht festlegen, alles offenhalten. Das macht es natürlich schwierig, zu finden oder gefunden zu werden. Viel erfolgsträchtiger wäre es, sich klar mit den echten Bedürfnissen und Wünschen zu zeigen und zu bemerken: Es gibt auch für mich jemanden, der wirklich gut passt. Bei viel Coolness können oft Ängste und Unsicherheiten dahinterstecken, vieles andere mehr. Zu viele Menschen, die sich selbst nicht wirklich spüren und authentisch zeigen können, glauben, nicht liebenswert zu sein. Schade.

Klarheit hilft, Chemie auch

Ich finde, es ist richtig, richtig cool – und vor allem viel erfolgversprechender –, zu sich selbst und den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Was auch immer das ist. Es ist wirklich erstaunlich, wie hilfreich es sein kann, für sich selbst herauszufinden, was man sich jetzt wirklich wünscht, wie es einem jetzt wirklich geht und was fehlt. Das ist ein bisschen so wie bei einem Navi, da ist es ja auch gut, konkret zu wissen, wohin man möchte. Bei Beziehungen zählen natürlich andere Koordinaten. Welche Werte, Bedürfnisse, Interessen, Lebenswünsche und Träume gibt es, welche Lebenspläne, mit welcher Haltung geht man durchs Leben?

Wofür entwickelt man Neugierde, Interesse, was inspiriert, was begeistert, verbindet? Wie möchte man sich in einer Partnerschaft fühlen? Was könnte gute Gemeinsamkeit alles sein, und wie viel Wir braucht es, wo die Eigenständigkeit? Wie wäre es im ersten Schritt mit liebevoller Ehrlichkeit zu sich selbst? Auch wenn das manchmal nicht schmerzfrei geht – dieses sich selbst wieder gut und ehrlich Spüren kann sehr befreiend sein. Wer sich nach Nähe und Intimität sehnt, darf sich auch nahbar und verletzlich zeigen. Denn diese vermeintlichen Schwächen können Nähe und Intimität erst möglich machen.

Der Faktor Zeit und die Liebe

Ja, wir leben in einer unglaublich raschen und oft sehr getriebenen, fremdgesteuerten Welt. Wie gut nehmen wir uns selbst eigentlich wahr? Wie geht es uns in Begegnungen mit anderen? Viele wollen sofort Bescheid wissen, was aus einer Begegnung werden könnte, gleich beim ersten Date. Wisch und weg. Tiefes Erkennen und grundlegende Veränderungen brauchen manchmal ein bisschen Zeit. Wie schön, wenn es bei Dates, die zu Liebe führen sollen, keinen Stress gibt, wenn wir uns selbst und einander gut spüren und bemerken, wie und ob sich so etwas wie Zuneigung, Entspanntheit miteinander, Freude, Flirt, Erotik und Leidenschaft entwickeln können.

Glücklich mit sich selbst

Wer sich eine Beziehung wünscht, dem sei geraten: Nur wollen oder träumen, aber nichts tun ist vergeudete Lebenszeit! Wenn wir nicht auf die Prinzessin oder den Prinzen warten wollen, sondern eine gleichwertige Partnerschaft anstreben, könnten wir doch schon mal liebevoll mit uns selbst sein. Selbstfürsorge macht womöglich attraktiv, denn wenn wir tatsächlich dafür sorgen können, dass wir halbwegs glücklich und zufrieden sind, sind wir viel glücklicher, freier und eben auch oft anziehender.

Wer auf den Liebes-Blitzschlag und das Glück von außen wartet, verpasst viel vom echten Leben. In der Zwischenzeit wäre es eine Möglichkeit, sich auf sich selbst mit all den bunten Facetten einzulassen und natürlich auch sinnlicher, bewusster und freudiger auf Begegnungen zuzugehen. Mit der Zeit, die es eben braucht, sich selbst und einander wirklich persönlich zu begegnen, ehrliche Fragen zu stellen – vielleicht kann es ja dann Liebe auf den fünften oder zehnten Blick werden. (Nicole Siller, 7.7.2023)