Im Gastblog erklärt Rechtsanwältin Julia Andras, wie ein Obsorgeverfahren abläuft – und welche Regeln dabei gelten.

Während einer bestehenden Ehe haben grundsätzlich beide Elternteile das Recht auf gemeinsame Obsorge der Kinder. Diese Regelung bleibt an und für sich auch nach einer Scheidung bestehen. Es gibt jedoch Ausnahmen, wenn die geschiedenen Eltern eine abweichende Vereinbarung treffen. Es ist beispielsweise möglich, dass einem Elternteil das alleinige Sorgerecht übertragen wird oder dass das Sorgerecht eines Elternteils auf bestimmte Angelegenheiten beschränkt wird.

Wenn ein Elternteil jedoch mit der bestehenden Vereinbarung des Sorgerechts nicht (mehr) einverstanden ist, besteht die Möglichkeit, eine gütliche Einigung bei Gericht herbeizuführen. Das Gericht hat dann die Aufgabe, unter Berücksichtigung der Interessen und des Wohlergehens des Kindes eine entsprechende Regelung zu treffen und die erforderlichen Beweise für die Entscheidung aufzunehmen.

Kind öffnet Tür
Bei Fragen der Obsorge werden oft die Kinder selbst angehört, schließlich geht es auch um den zukünftigen Wohnort. Dabei gibt es aber begründete Ausnahmen.
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Ein bedeutendes Instrument zur Gewährleistung des Wohlergehens minderjähriger Kinder bei der Frage der Obsorge ist "das Gebot zur Anhörung des Kindes". Ab dem vollendeten 14. Lebensjahr hat das Kind auf jeden Fall das Recht, selbst zu entscheiden, bei welchem Elternteil es leben möchte. Jüngere Kinder sollten ebenfalls vom Gericht angehört werden, und ihre Wünsche bezüglich ihrer Betreuung müssen bei der Entscheidung des Gerichts berücksichtigt werden. Eine solche Befragung kann jedoch unterlassen werden, wenn dadurch das Wohl des minderjährigen Kindes gefährdet wäre oder wenn aufgrund der mangelnden Verständnisfähigkeit des Kindes offensichtlich keine fundierte Äußerung zum Verfahrensgegenstand zu erwarten ist.

Eine weitere Möglichkeit, das Wohl des Kindes zu betrachten, besteht darin, einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Die Aufgabe des Sachverständigen besteht darin, den Fall gründlich zu prüfen, relevante Faktoren zu untersuchen und dem Gericht einen fundierten Bericht vorzulegen. Dabei analysiert er die beteiligten Personen sowie die Beziehungen zwischen ihnen. Er erstellt folglich ein Gutachten, welches in der Regel die Untersuchung der familiären Situation, die Bewertung des Wohlergehens des Kindes und Empfehlungen zur elterlichen Obsorge beinhaltet.

Rechtsstreit um Obsorge

Die Frage, ob sämtliche von den Parteien beantragte Beweise vom Gericht aufgenommen werden müssen oder ob das Gericht in Bezug darauf einen Ermessensspielraum hat, wurde unlängst vom Obersten Gerichtshof behandelt.

In einem konkreten Fall beantragte die geschiedene Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Kinder vor dem Erstgericht die Übertragung der alleinigen Obsorge für ihre Kinder im Alter von fünf und sieben Jahren. Bisher hatten beide Elternteile die gemeinsame Obsorge und die Kinder verbrachten abwechselnd eine Woche bei der Mutter und eine Woche beim Vater. Die Mutter begehrte eine Änderung dieser Regelung. Falls das Gericht die gemeinsame Obsorge aufrechterhalten würde, beantragte sie außerdem, dass ihre Wohnung als Hauptbetreuungsort der Kinder festgelegt wird und der Vater nur ein 14-tägiges Kontaktrecht an den Wochenenden erhält. Das Gericht sah jedoch keinen Anlass für solche Maßnahmen. Aufgrund der für sie ungünstigen Entscheidungen der ersten und zweiten Instanz legte die Mutter schließlich ein Rechtsmittel beim Obersten Gerichtshof ein. Sie bemängelte insbesondere, dass ihre Beweisanträge, wie die Einholung eines Sachverständigengutachtens und die Befragung der Kinder, nicht vom Gericht berücksichtigt wurden. Es liege daher ein Verfahrensmangel vor. Diese Anträge hätten dazu gedient, die Frage zu klären, welche Regelung der Obsorge dem Wohl der Kinder entspricht.

Klarstellung des OGH

Der Oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen, das fünfjährige Kind nicht anzuhören. (2 Ob 4/23m) Diese Entscheidung wurde damit gerechtfertigt, dass das Kind aufgrund seines Alters nicht in der Lage war, den Sachverhalt angemessen zu verstehen. Ebenso wurde die Entscheidung, das siebenjährige Kind nicht zu befragen, bestätigt. Es wurde erklärt, dass eine Befragung durch einen Dolmetscher aufgrund der Sprachbarriere für das Kind sehr belastend wäre und dem Wohl des Kindes abträglich sein könnte.

Darüber hinaus hat der Oberste Gerichtshof klargestellt, dass das Pflegschaftsgericht im Obsorgeverfahren nicht immer verpflichtet ist, einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Untersuchungen und fachpsychologische Schlussfolgerungen der Familiengerichtshilfe können in Verbindung mit anderen Beweismitteln eine ausreichende Grundlage für Entscheidungen bieten.

Kindeswohl im Vordergrund

Damit stellt der Oberste Gerichtshof einmal mehr klar, dass das Kindeswohl stets an erster Stelle steht. Dies nicht nur bei der Obsorgeentscheidung an sich, die vom Grundfall der gemeinsamen Obsorge der Elternteile ausgeht, sondern auch bereits im Obsorgeverfahren selbst. Hinsichtlich der aufzunehmenden Beweise wurde betont, dass die Aufnahme von grundsätzlich wichtigen Beweisen nicht automatisch als Verfahrensmangel gewertet werden muss. Dies gilt sowohl für die Einholung eines Sachverständigengutachtens als auch für die Einvernahme von Kindern. Somit kann selbst die übliche Befragung des Kindes zur Wahrnehmung seiner Haltung und Bedürfnisse unterlassen werden, wenn dies dem Kindeswohl schaden könnte. Eine gerichtliche Einvernahme kann zweifellos eine stressige Situation darstellen, insbesondere in sehr jungen Jahren oder bei fehlenden Sprachkenntnissen. Die gelebte Gerichtspraxis der Voranstellung des Kindeswohls in jedem Verfahrensstadium ist daher sehr zu befürworten. (Julia Andras, 30.6.2023)