Stefan Brändle aus Paris

Alles ist relativ – auch die Krawalle in Paris. Innenminister Gérald Darmanin sprach am Sonntag von einer "ruhigeren Nacht". Zu verdanken sei dies dem "entschlossenen Vorgehen der Polizei", fügte der Minister an, dessen Regierung unter starkem politischem Druck steht. Im Ballungsraum Paris, wo über zehn Millionen Menschen leben, kamen zusätzliche Hubschrauber zum Einsatz. Sie erlauben es den Bodentruppen, die Bewegungen der äußerst mobilen und offenbar sehr entschlossenen Schlägerbanden zu verfolgen.

Polizisten mit Schilden in Paris.
Das Dior-Gebäude an der Avenue des Champs Élysées wurde von Polizisten bewacht.
REUTERS/NACHO DOCE

In der südfranzösischen Metropole Marseille setzte die Polizei erstmals gepanzerte Fahrzeuge ein. Rund um den alten Hafen lieferten sich vermummte Jugendliche stundenlange Straßenschlachten mit der Polizei. Wie in der Nacht zuvor standen landesweit 45.000 Polizisten und mehrere Tausend Feuerwehrleute im Einsatz.

Keine Fotomontage, sondern das kunstvoll verbarrikadierte Dior-Gebäude bei Tag.
EPA/OLIVIER MATTHYS

In ganz Frankreich kam es in der Nacht auf Sonntag offiziell zu 719 Festnahmen, knapp die Hälfte davon in Paris. Diese Zahlen zeugen von einem gewissen Rückgang der Krawalle, die durch den Tod eines 17-jährigen Autofahrers nordafrikanischer Herkunft durch einen Polizeischuss ausgelöst wurden. In den beiden Vornächten waren jeweils mehr als tausend Randalierer – am Samstag deren 1311 – festgenommen worden.

Halbe Million Euro Spenden für verdächtigen Polizisten

Ruhig verlief am Samstag die Beisetzung von Nahel M. in seinem Wohnort Nanterre westlich von Paris. In der Universitätsstadt, von der 1968 die Studentenunruhen ausgegangen waren, versammelten sich mehrere Hundert Trauergäste.

Unterdessen hat eine Spendenaktion für den Polizisten, der den 17-Jährigen Nahel mutmaßlich erschossen hat, bis Sonntag bereits mehr als 500.000 Euro gesammelt. Ziel ist die Unterstützung der Familie des Polizisten, "der seine Arbeit getan hat und nun einen hohen Preis zahlt", wie es in der Kampagne heißt. Der Spendentopf wurde von Jean Messiha, einem Unterstützer des rechtsextremen Politikers Éric Zemmour, eingerichtet. Der verdächtige Polizist selbst befindet sich in Untersuchungshaft. Gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Totschlags eingeleitet.

Nach Angaben der Zeitung "Le Figaro" scheint Messiha mit der Aktion in Konkurrenz zu einem Spendenaufruf für die Mutter des getöteten Burschen treten zu wollen. Demnach prahlte er damit, mehr Geld gesammelt zu haben.

Polizisten bei einer Kontrolle in Paris.
REUTERS/NACHO DOCE

Während die Zahl der Festnahmen rückläufig ist, haben allerdings die Intensität und der Gewaltpegel der Krawalle bis in kleine Provinzstädte erneut zugenommen. Im Pariser Vorort L’Haÿ-les-Roses wurde ein als Rammbock benütztes Fahrzeug mitten in der Nacht in das Wohnhaus des Bürgermeisters katapultiert. Der Effekt wurde noch verstärkt durch Brandbeschleuniger, den Ermittler in Flaschen im Auto fanden. Bürgermeister Vincent Jeanbrun war gar nicht anwesend, da er auch die Nächte im Rathaus verbringt, um die Aktionen so weit wie möglich zu überwachen. Seine Frau und seine fünf- und siebenjährigen Kinder mussten hingegen durch eine Hintertür aus dem brennenden Haus fliehen – sie wurden von den Gewalttätern bis in den Garten verfolgt. Die Mutter wurde mit einem Knochenbruch ins Krankenhaus eingeliefert, auch eines der Kinder wurde verletzt.

Nato-Draht vor dem Rathaus in L'Hay-les-Roses, wo das Wohnhaus von Bürgermeister Vincent Jeanbrun und seine Frau und kleinen Kinder angegriffen worden waren.
REUTERS/YVES HERMAN

Auch andere Berichte zeugen von der Gewaltzunahme. Bei Pontoise im Norden von Paris stoppten Jugendliche mehrere Fahrzeuge, die sie sodann mit schweren Steinen bewarfen. Eine Frau erzählte, ein Jugendlicher habe ihre Rückscheibe zertrümmert – und abgelassen, als er den Säugling auf dem Rücksitz erkannt habe.

Macron sagt Reise ab

Ein neues Phänomen sind auch die Plünderungen von Supermärkten und Einkaufszentren. Entlang von Straßen wie der Pariser Avenue des Champs Elysées vernageln viele Geschäftsinhaber ihre Schaufenster mit Holzbrettern. Das hält die gezielt vorgehenden Plünderer aber nicht ab. Oft besprühen sie die Linsen der Überwachungskameras mit Sprayfarbe, bevor sie Schaufenster einwerfen oder Holzverschalungen abreißen. Die Polizei kommt meist zu spät oder wird mit Feuerwerkböllern beschossen.

Finanzminister Bruno Lemaire gab am Samstag bekannt, dass in Frankreich mehr als 700 Geschäfte und Märkte, aber auch Restaurants und Bankfilialen geplündert worden seien. Präsident Emmanuel Macron sagte am Samstag nach einer Besprechung mit dem deutschen Präsidenten Frank-Walter Steinmeier einen dreitägigen, sehr symbolischen Staatsbesuch in Ludwigsburg, Berlin und Dresden ab.

Innenpolitisch ist der französische Präsident unter Druck, da die Rechte die Ausrufung des Notrechts und andere Maßnahmen zur Wiederherstellung von Recht und Ordnung verlangt – teils sogar den Einsatz der Armee. (Stefan Brändle aus Paris, APA, 2.7.2023)