Nur ein paar Stunden dauerte es, bis sich die "Bedingung", die Recep Tayyip Erdoğan für die türkische Einwilligung zum Nato-Beitritt Schwedens stellte, als Theaterdonner herausstellte. Die Forderung, die EU solle dafür Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fortsetzen, war nur eine kleine Ablenkung von der deutlicher werdenden außenpolitischen Kurskorrektur des türkischen Präsidenten. Diese hatte sich bereits mit der Einladung seines ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj nach Ankara abgezeichnet.

Erdoğans überraschendes Plädoyer für die Aufnahme der Ukraine in die Nato am Freitag kann, euphemistisch gesagt, seinem russischen Freund Wladimir Putin nicht gefallen haben. Mindestens ein ebenso starker Affront war die Heimkehrerlaubnis für die in der Türkei untergekommenen Asow-Kommandeure in die Ukraine. Die Prigoschin-Affäre, die Putin schwach gezeigt hat, könnte dazu beigetragen haben, dass der türkische Präsident nun seine Position zugunsten der Nato, der USA und Europas verschiebt. Aber auch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in denen die Türkei steckt, haben ihren Anteil an der Neuorientierung Ankaras.

Tayyip Erdoğan
Nutzte die Nato-Bühne für sich: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
APA/AFP/LUDOVIC MARIN

Der schwedische Nato-Beitritt, der nun stattfinden wird, hat rein gar nichts mit dem türkischen EU-Beitritt, der nicht stattfinden wird, zu tun: Das wird jedoch Erdoğans Anhängerschaft nicht daran hindern, den Erfolg seiner Starken-Mann-Pose zu feiern. Die EU hat seine Botschaft, dass Ankara an einer Intensivierung der Beziehungen interessiert ist, freundlich zur Kenntnis genommen. Der erneute Wahlsieg Erdoğans, der die Türkei seit Jahren in Richtung Autokratie führt, ist damit in Europa verdaut. Die Themen Zollunion und Visaerleichterung liegen zumindest nominell wieder auf dem Tisch.

Dazu gibt es noch die Zusagen Schwedens zur "Terrorbekämpfung" und die freundlichen Nasenlöcher, die US-Präsident Joe Biden zur Lieferung der ersehnten F-16-Kampfjets macht. Die US-türkische Diplomatie lief vor dem Treffen der beiden Präsidenten zur Hochform auf. Damit werden 20 Jahre schwieriger militärischer Beziehungen zwar nicht aus dem Weg geräumt, die 2003 mit der Weigerung Ankaras begonnen haben, den USA den Einmarsch in den Irak von der Türkei aus zu erlauben. Das russische Raketensystem S-400, das das Nato-Mitglied gekauft hat, wird ja nicht verschrottet. Aber zumindest könnte das türkische Abdriften Richtung Moskau erst einmal gestoppt sein.

Auch Biden muss eine Riesenkröte dafür schlucken, dass er Erdoğan wieder ein paar Meter an Washington heranziehen kann. Den Preis für die türkisch-westliche Normalisierung könnten einmal mehr Kurden zahlen: nicht nur die linken Dissidenten in Schweden, auf die der Druck zunimmt, sondern auch die PKK-nahen syrischen Kurden, die von der Türkei bekämpft und gleichzeitig von den USA unterstützt werden. Aber Erdoğan ist hinsichtlich seiner Syrien-Politik auch von Arrangements mit Russland abhängig. Das wird noch interessant.

Erdoğan verkörpert nicht nur den türkischen islamischen Nationalismus, sondern auch einen politischen Bilderbuchpragmatismus: Als es wirtschaftlich nötig wurde, ließ er sich auch von jenen arabischen Kräften umarmen – Riad, Abu Dhabi, Kairo –, die seine ideologischen Freunde, die Muslimbrüder, bekämpfen. Er schafft das auch mit "dem Westen". Hoffentlich hält es an. (Gudrun Harrer, 11.7.2023)