Im Gastblog zeigt Mediator und Jurist Ulrich Wanderer, wie wichtig es ist, auch in hitzigen Situation aktiv zuzuhören und einander gegenseitig Raum zur Ausformulierung von Gedanken zu geben – selbst wenn diese nicht besonders logisch erscheinen.

Es war einmal … Und doch ist dies kein Märchen. Es war einmal in den Räumlichkeiten der Sozialbau AG, als sich zwei Parteien einfanden, um ihre Nachbarschaft zu verbessern. Dem obigen Mieter wurde vorgeworfen, des Nächtens mit schweren Hantelscheiben zu trainieren, was dieser aber in Abrede stellte, er hätte sich erst vor kurzem eine Mitgliedschaft im Fitnesscenter um die Ecke organisiert und würde dort an den professionellen Maschinen trainieren. Zu Hause hätte er kein Interesse mehr daran. Die Beschwerdeführerin war durchaus gut auf die Diskussion vorbereitet und konnte jeden Halbsatz des Nachbarn mit Vorwürfen kontern. Was erst wie ein fast normales und ziemlich übliches Gespräch begann, lief bald Gefahr, aus dem Ruder zu laufen.

Die Gesprächsregeln

Nachdem es in den Räumlichkeiten der Wohnbaugenossenschaft einen eigenen Raum für Mediationsgespräche gibt, den wir für die Treffen mit den Parteien nutzen können, konnte auch auf ein bereitgestelltes Flipchart zurückgegriffen werden. Meinem lieben Kollegen Walter sei Dank, er verfasste zuerst eine wundervolle Zusammenstellung der Gesprächsregeln, die die Grundlage der Mediation bilden. Auf diesem Blatt war in klarer Schrift von Wertschätzung, Respekt und Offenheit zu lesen, von Ausredenlassen und Zuhören. Nun, all diese Begriffe lesen sich wie das kleine Einmaleins der guten Erziehung, und doch fällt es in der jeweiligen Situation so schwer, sich an diese Regeln zu halten – hier geht es mir nicht anders.

Das Problem mit dem Zuhören

Ein Satz sticht in diesem Kontext besonders aus Walters Regelwerk hervor, er schreibt unter dem Stichwort des "Ausredenlassens": "Zuhören bedeutet nicht zustimmen". Nein es bedeutet nicht, dass jeder, der zuhört, das Gehörte in Abrede stellt, sondern befreit den Zuhörer von der Last, widersprechen zu müssen, um nicht der Falle des "qui tacet, consentire videtur" ("wer schweigt, scheint zuzustimmen") zu erliegen. Nein, wer schweigend zuhört, zeigt nur, dass er die Ansicht des Gegenübers verstehen möchte. Natürlich stimmt man nicht überein, natürlich ist die eigene Wahrnehmung eine andere, sonst wäre der Termin ja wohl kaum zustande gekommen.

Zuhören
Wer aktiv zuhört, kann in ganze Gedankenwelten eintauchen. Das sorgt für ein komplett anderes Verständnis des Gegenübers.
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Eben nicht zustimmen

Was aber bedeutet dieses Satz, Zuhören würde nicht automatisch eine Zustimmung implizieren, denn im Alltag? Erfahrungsgemäß juckt es doch richtiggehend unter der Zunge, dem Gegenüber den Irrsinn seiner Überlegungen bereits nach dem ersten Halbsatz offenzulegen und die eigenen, weit besseren Argumente zu präsentieren. Schließlich haben wir auch gelernt, dass eine Diskussion den Sinn verfolgt, die besseren Argumente gewinnen zu lassen. Ist es nicht eine Frage der Zeitökonomie, den scheinbar irrenden Gesprächspartner zum frühestmöglichen Zeitpunkt auf die offenkundigen Fehler in der Argumentation aufmerksam zu machen?

Natürlich ist ein "Dein Schwachsinn geht ja auf keine Kuhhaut" nicht zwingend der beste Weg, eine konstruktive Entwicklung der Thematik in die Wege zu leiten. Der in einem Kommentar unter meinem letzten Blog erwähnte Mr. Spock hätte wohl mit einer hochgezogenen Augenbraue die Argumentationslinie "faszinierend" gefunden und in weiterer Folge in logischer Stringenz auf die Schwachstellen aufmerksam gemacht. Aber auch Mr. Spock hätte wohl gewartet, um all jene Argumente zu hören, all jene Bruchstücke an Information sammeln zu können, um sie dann in der Entgegnung zu zerlegen.

Zuhören ist eine Kunst

Einfach ist Zuhören keinesfalls. Insbesondere, wenn eine Vielzahl von Informationen geeignet ist, die Replik einzuleiten. Herausforderungen beim Zuhören beginnen manchmal schon mit der Körpersprache oder der Lautstärke und geht nahtlos in eine Gedankenwelt über, die der eigenen Lichtjahre entfernt scheint. Sich hier zurückzuhalten ist eine nahezu übermenschliche Kunst und doch, kann es sich auszahlen.

Bleiben wir bei den Lichtjahren der Entfernung zum eigenen Weltbild. Wie oft haben wir die Möglichkeit, in jene Welten einzutauchen, die scheinbar noch nie ein (vernünftiger) Mensch zuvor gesehen hat? Denken wir doch an die diversen Seiten einer Botschaft. Der reine Sachinhalt einer Aussage wirkt oftmals vernachlässigbar, viel spannender ist schon die Ebene der Selbstoffenbarung. Was sagt uns die Art und Weise, der Zeitpunkt und auch der Inhalt des Gesprochenen über die Person aus? Können wir hier nicht viel mehr erfahren als nur schlicht, dass scheinbar der Fernseherton durch die Wand dringt? Wir erfahren vom Stress des Gegenübers, von seinem Bedürfnis nach Entspannung und dem Druck im Job. Meist sagt der Sprecher oder die Sprecherin über sich weit mehr aus, als er oder sie eigentlich will. Eine sehr spannende, ja faszinierende Offenbarung.

Ausredenlassen als Vorleistung

Ein weiterer Vorteil, das Gegenüber ausreden zu lassen liegt darin, dass man dann mit Fug und Recht auch in Anspruch nehmen kann, selber ausreden zu können. Nicht nur in Gegenwart eines Mediators, einer Mediatorin oder eines anderen Dritten. Der Satz "Schau, ich hab dich ja auch ausreden lassen, wenngleich ich wirklich nicht mit allem übereinstimme, was du gesagt hast, ich habe es einfach aus Interesse und Höflichkeit getan" kann hier Wunder wirken. Das beste Beispiel ist oftmals jenes, das man selber in die Welt stellt.

Ihr könnt die Sätze zu Ende ...

Konflikte schaukeln sich in der Regel auf, indem jede Seite mit ihren Argumenten, ihren Sichtweisen die andere Seite überzeugen möchte. Gelingt überzeugen nicht in einem zufriedenstellenden Ausmaß, dann soll wenigstens überbrüllt oder niedergeschrien werden. Wir alle kennen diese Situationen. Es macht etwas mit dem Gespräch, mit dem Konflikt und schlussendlich auch mit den Konfliktparteien, wenn die Sätze beendet werden können. (Hier muss ich oftmals an einen ehemaligen Professor meiner Schulzeit denken, der den legendären Satz "Freunde, ihr müsst die Sätze zu Ende …" geprägt hat.) Der Stress, schnell noch ausreden zu müssen, da die nächste unhöflichkeitsbedingte Unterbrechung schon in der nächsten Atempause lauert. Es liegt unter anderem auch an uns, diesen Teufelskreis zu brechen und eben zu signalisieren, dass wir uns für die Ansichten des Gegenübers interessieren. Nein, wir teilen sie nicht, aber wir interessieren uns zumindest minutenlang für eine fremde Gedankenwelt.

You may say, I'm a dreamer

Wir leben in einer Welt, in der selbst die gewählten Repräsentanten und Repräsentantinnen den Level an Gesprächskultur in das zweite Untergeschoß zu verlegen scheinen. Das Ergebnis dieses Vorbildes erleben wir in der täglichen Konfliktkultur. Hier ein positives Beispiel zu schaffen, schlicht einmal zuzuhören und darauf zu replizieren kann durchaus verändern.

Vielleicht verändert es einerseits das Selbstverständnis des Gesprächspartners oder der Gesprächspartnerin, der oder die gar nicht gewöhnt ist, die eigenen Gedanken zu Ende führen zu können, vielleicht stößt er oder sie dabei selber, ohne dass es überhaupt eines Widerspruches bedarf, auf die eigenen Gedankenfehler. Auf jeden Fall zeigt es zumindest, dass ein respektvoller Umgang möglich ist. Wäre doch schön, wenn dieser Gedanke dann Wurzeln schlüge und sich vielleicht verbreitet. (Ulrich Wanderer, 20.7.2023)