Seit acht Monaten betritt der ehemalige Wirecard-Chef Markus Braun Woche für Woche den Hochsicherheitsgerichtssaal in München-Stadelheim, um seine Unschuld in dem Wirtschaftskrimi zu beweisen. Monatelang ging es nun um komplexe Details, in der breiten Masse fand der Prozess um den kollabierten Zahlungsdienstleister nicht mehr viel Beachtung. Doch plötzlich meldet sich – maximal unerwartet – der flüchtige Jan Marsalek beim Gericht. DER STANDARD hat die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengetragen.

Video: Wirecard-Prozess mit österreichischer Zeugin: Lebenszeichen von Marsalek
APA/kha

Frage: Worum geht es im Wirecard-Prozess?

Antwort:Wirecard war ein Zahlungsdienstleister aus München, sprich das Unternehmen wickelte Onlinezahlungen ab und sorgte dafür, dass Geld vom Konsumenten zum Händler kommt. Jahrelang hatte sich Wirecard als Shootingstar der Digitalisierung präsentiert und unglaubliche Wachstumszahlen vorgelegt.Nach vielen Übernahmen ging das rasch wachsende Unternehmen an die Börse und war 2018 mit einem Börsenwert von 21,2 Milliarden Euro mehr wert als die Deutsche Bank. Vor ziemlich genau drei Jahren kollabierte das Unternehmen, weil 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz fehlten. Laut Staatsanwaltschaft hat es dieses Geld nie gegeben und es handelte sich um Luftbuchungen.

Frage: Wer ist angeklagt?

Antwort: Der prominenteste Angeklagte ist der ehemalige Konzernchef Markus Braun. Ebenfalls auf der Anklagebank sitzen der einstige Wirecard-Statthalter von Dubai, Oliver Bellenhaus, und der Ex-Chefbuchhalter Stephan von Erffa. In einer 474 Seiten langen Anklageschrift listet die Staatsanwaltschaft auf, was sie den dreien vorwirft: Bilanzfälschung, Marktmanipulation, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrug.

Jan Marsalek
Wo ist Jan? Diese Frage beschäftigt seit Jahren zahllose Menschen. Zumindest die Frage, ob er noch lebt, dürfte fürs Erste geklärt sein.
AFP/Police Munich/HANDOUT

Die große Unbekannte

Frage: Wer fehlt vor Gericht?

Antwort: Mit dem ehemaligen Finanzvorstand Jan Marsalek fehlt vor Gericht die spannendste Figur in diesem Wirtschaftskrimi. Er war hinter Markus Braun die Nummer zwei im Konzern, gilt als mutmaßlicher Drahtzieher hinter der ganzen Maschinerie und ist seit Juni 2020 auf der Flucht. Der gebürtige Österreicher wird in Russland vermutet, bestätigt wurde das allerdings nie. Und selbst wenn die Behörden in Deutschland seinen Aufenthaltsort dort kennen würden, hätten sie dort keinen Zugriff auf ihn.

Frage: Wie hat sich Jan Marsalek gemeldet, und was sagt er?

Antwort: Mit einem Schreiben über den bekannten Münchner Anwalt Frank Eckstein hat er sich an das Gericht und die Staatsanwaltschaft gewendet und kommentiert den laufenden Prozess. Als Erstes hat die deutsche "Wirtschaftswoche" darüber berichtet. Beide Behörden bestätigen das Einlangen dieses Schreibens, gehen allerdings nicht auf den Inhalt ein. Seine eigene Rolle und die Vorwürfe gegen ihn thematisiert Marsalek nicht, heißt es in Verfahrenskreisen. Er soll jedoch zu verstehen gegeben haben, dass das Drittpartnergeschäft(Third Party Acquirer, TPA) des Konzerns sehr wohl existiert habe. Zudem belastet er den Kronzeugen Oliver Bellenhaus, der mehrmals gelogen haben soll, und stellt in Aussicht, sich ein weiteres Mal zu melden.

Das Drittpartnergeschäft

Frage: Welche Rolle spielt dieses Drittpartnergeschäft?

Antwort: Ob das Drittpartnergeschäft je existiert hat, ist die Schlüsselfrage in dem Mammutprozess. Wirecard hat jahrelang einen Großteil der Geschäfte über besagte Drittpartner in Asien abgewickelt, allen voran in Ländern, in denen der Konzern selbst keine Lizenz hatte. Deswegen ließ man die Zahlungen von anderen Dienstleistern durchführen und kassierte dafür Provisionen, die auf Treuhandkonten auf den Philippinen und Singapur gelagert wurden. Angeblich. Schlussendlich fehlten die berühmten 1,9 Milliarden Euro aus diesen Geschäften, die das Gros des Umsatzes und praktisch den gesamten Gewinn von Wirecard ausmachten.

Wirecard
Nach einem kometenhaften Aufstieg fiel Wirecard vor drei Jahren zusammen wie ein Kartenhaus. 1,9 Milliarden Euro fehlten in der Bilanz.
APA/dpa/Peter Kneffel

Frage: Wer vertritt welchen Standpunkt beim Drittpartnergeschäft?

Antwort: Der Staatsanwaltschaft zufolge hat dieses TPA-Geschäft überhaupt nie existiert. Die zahlreichen Firmenübernahmen seien fingiert gewesen, das hin und her geschobene Geld Luftbuchungen und alles in allem ein großer Betrug, bei dem Investoren und Anleger um 3,1 Milliarden Euro geprellt wurden. Die Staatsanwaltschaft stützt sich damit auf Aussagen des Kronzeugen Oliver Bellenhaus, dem zufolge das TPA-Geschäft fast zur Gänze erfunden war. Braun bestreitet das. Er sagt, die Geschäfte habe es gegeben, Marsalek und Bellenhaus hätten sich gegen ihn verschworen und das Geld über Schattenfirmen und undurchsichtige Konstrukte veruntreut. Stephan von Erffa hat sich noch gar nicht geäußert.

Die Bedeutung des Schreibens

Frage: Welche Bedeutung hat Marsaleks Schreiben?

Antwort: Es sorgt am Mittwoch für Streit vor Gericht. Während Braun-Verteidiger Alfred Dierlamm die Verlesung des bisher nicht veröffentlichten Schreibens forderte, lehnte Richter Markus Födisch dies vorläufig ab. Er sehe kaum Möglichkeiten, den Brief in die Verhandlung einzuführen. Dierlamm protestierte, da Marsaleks Brief wesentliche Angaben zu Brauns Entlastung enthalte. Nach einem minutenlagen Wortgefecht zwischenAnwälten, Richter und Staatsanwältin unterbrach Födisch sogar die Sitzung. Später führte Födisch die Verhandlung fort und erklärte, er werde Brauns Anwälten im späteren Tagesverlauf das Wort für einen Beweisantrag erteilen. Zunächst solle wie geplant die frühere Produktvorständin und Österreicherin Susanne Steidl als Zeugin vernommen werden.

Richter Markus Födisch hat wegen eines Streits um das Schreiben von Jan Marsalek sogar die Verhandlung unterbrochen.
REUTERS

Frage: Wer profitiert von diesem Schreiben?

Antwort: Die Staatsanwaltschaft hätte wohl nur Interesse an einer Befragung Marsaleks, das Schreiben dürfte kein großes Thema sein. Für eine Einvernahme müsste Marsalek allerdings offiziell geladen werden, dafür bräuchte es eine Adresse. Die gibt es nicht. Und in Russland kann keine Einvernahme stattfinden. Eine Anklage gegen den Wiener gibt es ebenfalls nicht, dafür müsste er gefasst werden. Brauns Anwalt Alfred Dierlamm forderte kürzlich, das Gericht müsse weitere umfangreiche E-Mail-Korrespondenz und Kontenunterlagen als Beweise würdigen, damit ließe sich Brauns Unschuld untermauern. Mit seinem Schreiben stützt Marsalek also zum Teil Brauns Aussage. Dass er und Bellenhaus das Geld beiseitegeschafft hätten, bestätigt er jedoch nicht – er würde sich damit auch stark selbst belasten.

Der Zeitpunkt

Frage: Warum meldet sich Jan Marsalek gerade jetzt?

Antwort: Darüber kann man nur mutmaßen. Dass es aus Freundschaft zu Markus Braun ist, gilt als unwahrscheinlich – immerhin stellt der ihn als Sündenbock und Schuldigen für so ziemlich alles dar. Möglicherweise verschlechtert sich seine Situation in Russland. Möglicherweise spielt er deswegen mit dem Gedanken, ebenfalls Kronzeuge zu werden. Dafür müsste aber alles über den Haufen geworfen werden. Wegen der zeitlichen Nähe zu Dierlamms Offensive stellt sich überdies die Frage, ob das Schreiben überhaupt echt ist. All das sind Gedankenspiele, im Wirecard-Prozess und vor allem bei Jan Marsalek sollte allerdings nichts mehr kategorisch ausgeschlossen werden.

Der Prozess bisher

Frage: Wie läuft der Prozess?

Antwort: Für Markus Braun bisher nicht sonderlich gut, der Richter Markus Födisch scheint ihm und den Argumenten seiner Verteidigung nicht sonderlich viel Glauben zu schenken. Die ersten Prozesswochen waren davon geprägt, dass sich Bellenhaus und Braun scharf attackierten und teilweise schwer beleidigten. In ihren Zeugenaussagen meinten auch die langjährige Chefjuristin, ein leitender Buchhalter und der Insolvenzverwalter, dass das TPA-Geschäft wohl erfunden war.

Braun und Bellenhaus
Oliver Bellenhaus (links) und Markus Braun (rechts) erheben seit Monaten schwere Vorwürfe gegeneinander und sparen nicht mit Beschimpfungen.
IMAGO/Sven Simon

Bekanntes und Hintergründe

Frage: Wer sind Markus Braun und Jan Marsalek, was machen sie jetzt?

Antwort: Der aus Wien stammende Markus Braun (53) war von 2002 bis Juni 2020 Vorstandsvorsitzender von Wirecard und sowohl in Österreich als auch in Deutschland politisch gut vernetzt. Zuvor hatte er für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG gearbeitet. Seit mehr als zwei Jahren sitzt er mittlerweile in U-Haft. Der 43-jährige Jan Marsalek (ebenfalls aus Wien) war Finanzvorstand bei Wirecard und ist untergetaucht. Er führte ein Doppelleben. Einerseits trat er als Manager eines IT-Giganten auf, andererseits dürfte er gute Kontakte zu Geheimdiensten auf der ganzen Welt gepflegt haben.

Frage: Wie verlief Marsaleks Flucht?

Antwort: Geflüchtet ist Marsalek am 19. Juni 2020 von München über einen kleinen Flughafen in Bad Vöslau nach Minsk, dort dürfte er in einer VIP-Lounge eingecheckt haben. Es gibt Fotos von Marsalek und seinem besten Freund bei Partys – auch von früher bei Wirecard-Veranstaltungen. Dieser Freund dürfte ein russischer Spion sein und auch in Marsaleks Villa in München ein- und ausgegangen sein. Von Minsk soll Marsalek mit einer weiteren Identität nach Russland geflüchtet sein. Dort verliert sich seine Spur.

Frage: Wer hat Wirecard zu Fall gebracht?

Antwort: Das ist noch unklar. Großen Anteil hatte jedenfalls Dan McCrum, ein Journalist der "Financial Times". Ab 2015 wies er in seiner Serie "House of Wirecards" auf Unregelmäßigkeiten in den Bilanzen hin. McCrum bekam nicht nur von Wirecard heftigen Gegenwind. Die deutsche Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Bafin) zeigte ihn sogar wegen des Verdachts der Aktienmanipulation an. Schlussendlich zerbrach Wirecard im Juni 2020, weil in der Bilanz 1,9 Milliarden Euro fehlten. (Andreas Danzer, 19.7.2023)