Orca schwimmt mit Nachwuchs
Orca-Mütter passen besonders gut auf ihren männlichen Nachwuchs auf.
Getty Images/iStockphoto/Cavan Images

Eine besonders innige Mutter-Sohn-Beziehung kann nicht nur bei der menschlichen Spezies vorkommen. Auch Orca-Mütter haben oft eine enge Bindung zu ihrem männlichen Nachwuchs. Das zeigt auch eine aktuelle Studie: Muttertiere nach der Menopause passen überdurchschnittlich oft auf, dass ihre Söhne bei Kämpfen mit anderen Schwertwalen nicht verletzt werden. Das schreibt ein Forschungsteam um Verhaltensforscherin Charli Grimes von der Universität Exeter in Großbritannien im Fachjournal "Current Biology".

Die 103 wild lebenden Orcas, die die Forschungsgruppe beobachtete, sind im nördlichen Pazifik daheim. Bei Konflikten und spielerischen Kämpfen innerhalb der Art können sich die Tiere gegenseitig Wunden zufügen. Vernarbte Kratz- beziehungsweise Bissspuren lassen sich auch noch später erkennen. Die Forschenden zählten also nach, weil diese Narben einfacher zu analysieren sind als jahrelange Verhaltensbeobachtungen bei Wildtieren im Ozean. Anhand von etwa 7.000 Fotos stellten sie fest: Gewisse Männchen hatten 35 Prozent weniger Zahnabdrücke auf ihrem Körper als andere Männchen. Diese seltener geschädigten Tiere hatten Mütter jenseits der Menopause, von denen sie begleitet wurden.

Orca-Flosse mit Zahnspuren nach einem Kampf
Ein erwachsenes Männchen mit vernarbten Spuren eines Bisses.
David Ellifrit / Center for Whale Research

Wale in den Wechseljahren

Nicht alle Walspezies können übrigens in die Wechseljahre kommen: Delfine, Pottwale und Schweinwale etwa haben keine Einschränkung ihrer Fruchtbarkeit. Neben Orcas haben auch Belugas und Narwale eine Menopause. Weibliche Orcas, die mit sechs bis zehn Jahren geschlechtsreif werden und das stolze Alter von neunzig Jahren erreichen können, leben nach der Menopause meist noch etwa zwanzig Jahre.

Weniger behütet wurden hingegen die Töchter. Generell dürften Weibchen seltener Kampfwunden abbekommen als Männchen. Bei den Töchtern machte es der Studie zufolge aber keinen statistisch signifikanten Unterschied, ob ihre (postmenopausale) Mutter im Familienverbund lebt oder nicht, es wurde also kein schützender Effekt beobachtet. Die Fachleute erklären das mit dem Fortpflanzungsmuster der Schwertwale: Weibchen, die zu einem Gruppenverband gehören, suchen sich Männchen außerhalb dieser Gruppe als Väter ihrer Kinder – alles andere würde Inzuchtprobleme verursachen. "Wenn sich eine Tochter fortpflanzt, wird das Kalb innerhalb ihrer sozialen Gruppe aufgezogen, was für die Gruppe kostspielig ist", heißt es in der Studie: Ressourcen müssen mit einem weiteren Familienmitglied geteilt werden.

Fortpflanzung opfern

Diese Kosten werden allerdings von einer anderen Gruppe getragen, wenn es der eigene Sohn ist, der eine Partnerin findet und diese die Aufzucht übernimmt. Bei einer Orca-Mutter rentiere sich für maximalen Fortpflanzungserfolg – evolutionsbiologisch: die möglichst weite und nachhaltige Verteilung der eigenen Gene – somit ein höheres Investment in Söhne als in Töchter, führen die Wissenschafterinnen und Wissenschafter aus.

Es lässt sich allerdings noch nicht erklären, auf welche Weise die Mütter ihre Söhne beschützen. Immerhin wurde in der Studie kein Walverhalten beobachtet, sondern eine Annäherung durch die Zahl der Kampfnarben versucht. Künftige Untersuchungen wären daher interessant, um herauszufinden, ob es tatsächlich stärkere Interventionen bei Söhnen im Vergleich zu Töchtern gibt. Es sei jedenfalls "möglich, dass ältere Weibchen ihre Erfahrung nutzen, um ihren Söhnen dabei zu helfen, sich durch Begegnungen mit anderen Walen zu manövrieren", sagt Studienautor Darren Croft. Sie könnten den Nachwuchs von potenziell gefährlichen Situationen fernhalten und intervenieren, wenn sich die Möglichkeit eines Kampfes abzeichnet.

Orca-Mutter mit ihrem Kalb aus der Vogelperspektive
Die Beobachtungen deuten auf evolutionäre Vorteile dieses elterlichen Investments hin.
AP/NOAA Fisheries/Vancouver Aquarium

Das Ergebnis passt auch zu einer früheren Studie, die ein Teil des Forschungsteams bereits zu Beginn diesen Jahres veröffentlichte. Beobachtet wurden ebenfalls Tiere der nordpazifischen Schwertwalkolonie. Die Arbeit zeigte: Mütter opfern ihren eigenen Fortpflanzungserfolg sogar, um ihre Söhne zu unterstützen. Zwar passen Mütter vor den Wechseljahren weniger gut darauf auf, dass der männliche Nachwuchs bei internen Kämpfen keinen Schaden nimmt. Aber Weibchen, die mehr ausgewachsene Söhne hatten, brachten seltener neuen Nachwuchs zur Welt.

Orca-Omas und das Matriarchat

Evolutionsbiologisch hängt das Ergebnis der neuen Studie mit der sogenannten Großmutter-Hypothese zusammen. Sie ist ein Erklärungsversuch, warum manche weibliche Säugetiere – darunter der Mensch – überhaupt eine Menopause haben. Schließlich können sich Männchen auch noch in hohem Alter fortpflanzen. Muss sich ein Weibchen aber nicht bis ans Lebensende um immer neue eigene Nachkommen kümmern, kann es mehr Energie für die bereits lebenden Kinder und Kindeskinder aufwenden.

Ironischerweise fiel bei der Orca-Studie auf, dass Schwertwal-Großmütter keinen schützenden Effekt auf ihre Enkel ausübten, zumindest nicht, was Kämpfe gegen Artgenossen angeht. Dies war unabhängig davon, ob die Orca-Omas selbst noch fruchtbar waren oder diese Phase hinter sich gelassen hatten. Und junge Wale wurden auch nicht von Walweibchen nach der Menopause geschützt, mit denen sie nicht verwandt waren.

Eine launige Schlussfolgerung dieser Studie über eine matriarchal organisierte Spezies könnte dennoch lauten: Auch das Matriarchat hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass Töchter in der Ressourcenverteilung vor Söhnen stehen. (Julia Sica, 21.7.2023)