Eine Oma hält ein kleines Mädchen auf dem Arm und formt einen Kussmund
"Gib der Oma ein Bussi!" – lieb gemeint, aber ist es noch zeitgemäß, kleine Kinder zu Intimitäten zu drängen?
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"Kinder müssen sich von Erwachsenen weder küssen noch umarmen lassen", sagt die Australierin Brittany Baxter in einem Tiktok-Beitrag. In dem Video, das schon über 800.000-mal angesehen wurde, fordert sie Großeltern dazu auf, ihre Enkelkinder bei einem Bussi zuerst um Erlaubnis zu fragen. Und sie trifft damit einen Nerv. Es sei wichtig, dass Kinder von klein auf lernen, "Nein" zu sagen – und Erwachsene, auch die Eltern, sollten das akzeptieren.

Brittany Baxter fordert von den Großeltern ihrer Tochter: "Fragt, bevor ihr sie küsst oder umarmt!"
TikTok

Fast jeder kennt die Situation noch aus eigenen Kindheitstagen: Kaum hat man den Kopf bei Oma durch die Tür gesteckt, landete auch schon ein dicker Schmatzer darauf, gefolgt von einer festen Umarmung. Ist doch schön, Omas Freude über das Enkerl und ihre Liebe so direkt zu spüren. Wie kann das falsch sein?

Geschenk gegen Bussi

"Daran ist grundsätzlich nichts falsch", sagt die Kinderpsychologin Sabine Völk-Kernstock. "Sich umarmen, Küsschen verteilen, das sind Begrüßungsrituale, die in vielen Familien völlig normal sind – und das Kind lernt das von klein auf." Falsch sei es hingegen, wenn Erwachsene etwa für ein Geschenk körperliche Intimität einfordern. Wenn etwa Oma dem Kind Schokolade überreicht und sagt: "Und bekomme ich gar kein Bussi?" Oma macht das wahrscheinlich ohne böse Absicht. Die Kinderpsychologin sieht aber folgendes Problem: "Dem Kind wird beigebracht, dass es Dankbarkeit über körperliche Zuneigung zeigen muss."

Von dem Kind wird erwartet, dass es höflich und brav ist, was in diesem Fall bedeutet, das zu tun, was Oma gerne hätte. Zudem möchten Kinder ihre Großeltern/Tanten/Paten nicht enttäuschen, sie können sich in solchen Situationen schwer abgrenzen. Dabei würde ein einfaches "Dankeschön" reichen, findet die Kinderpsychologin. Und genau das sollten Eltern ihren Kindern auch beibringen. Schließlich gilt es in unseren Kulturkreisen als höflich, sich zu bedanken und sich anderen gegenüber respektvoll zu verhalten. Ähnlich sieht es beim Grüßen aus. Viele Eltern kennen die peinliche Situation, wenn das Kind nicht die Hände schütteln will. "Dass man einander grüßt, darf man von einem Kind erwarten, das gehört zur Höflichkeit dazu, aber wie gegrüßt wird, ist eigentlich egal", sagt Völkl-Kernstock. "Die eigenen körperlichen Grenzen des Kindes sollten dabei nicht überschritten werden."

Das bedeutet, zu akzeptieren, wenn das Kind nicht umarmt oder geküsst werden will. Die Australierin Brittany Baxter zeigt sich in ihrem Tiktok-Video genervt darüber, dass Großeltern etwa beleidigt reagieren, sollte ihre kleine Tochter ein Küsschen ablehnen. Aussagen wie "Oh, magst du mich denn gar nicht mehr?" sind nicht hilfreich, wenn man einem Kind beibringt, dass es körperliche Intimitäten auch ablehnen darf, findet die Mutter. Ihrer kleinen Tochter hätte sie bereits von klein an beigebracht, dass ihr Körper nur ihr allein gehört. Ein Nein sollte von jedem Erwachsenen, auch von den eigenen Großeltern, anstandslos akzeptiert werden. Nur so lernt das Kind, dass ein Nein eine Wertigkeit hat. Die Selbstbestimmung über den eigenen Körper spielt in ein weiteres Thema hinein: den Schutz vor Missbrauch.

Gute und schlechte Berührungen

Bereits Babys und sehr kleine Kinder, die noch nicht sprechen können, zeigen in ihrer Körperhaltung und durch Laute, wenn ihnen etwas nicht gefällt. Sie schütteln verneinend den Kopf oder lösen sich aus einer Umarmung heraus. Und umgekehrt geben Kinder auch ganz klare Signale, wenn sie Körpernähe wünschen. Streckt ein kleines Kind die Hände nach oben, ist klar, dass es hochgenommen werden möchte. Bezugspersonen spüren in der Regel sehr schnell, was ein Kind möchte und was nicht. Die Kinderpsychologin sieht keinen Fehler darin, wenn Eltern oder Großeltern fragen oder zumindest ankündigen, ehe sie das Kind umarmen oder küssen. Auch Kinder haben ein Recht auf körperliche Integrität.

Eine große Staatsaffäre sollte man aber nicht daraus machen. "Wir dürfen nicht vergessen, dass Berührungen über die Haut gerade für Babys und kleine Kinder sehr wichtig sind. Ein Bussi auf die Stirn, ein sanftes Streicheln über die Wange – Berührungen vermitteln Geborgenheit und emotionale Zuneigung." Erwachsene können sich allerdings die Frage stellen: "Brauche ich das gerade, oder mache ich es, weil ich denke, dass es das Kind braucht?" Die Kinderpsychologin weiß: "Selbst Babys können zwischen einer guten und schlechten Berührung unterscheiden. Das wird auch kognitiv so verarbeitet und abgespeichert."

Bei Fremden gilt in Österreich auf jeden Fall: "Kinder sind kein Streichelzoo!" Hier sollten Eltern zwischen engen Bezugspersonen und Fremden ganz klar unterschieden. "Fremde müssen immer zuerst die Eltern fragen, ehe sie ein Kind hochnehmen oder streicheln." Das gilt auch für die alte Dame bei der Bushaltestelle, die es nur gut meint und ganz entzückt ist von dem süßen Zwerg im Buggy. Zeigt das Kind Unbehagen, müssen Eltern eingreifen und das passende Korrektiv vornehmen. Selbst wenn es, oft ältere Menschen, irritiert und man als Elternteil als empfindlich abgestempelt wird. Für die Kinder sei das wichtig, um ein richtiges Nähe-Distanz-Gefühl zu entwickeln. Völkl-Kernstock: "Man will ja nicht, dass sich das Kind später ungeschaut einfach bei jedem auf den Schoß setzt."

Im kulturellen Vergleich gibt es aber große Unterschiede, wie mit Berührungen von kleinen Kindern umgegangen wird. Wer schon einmal mit Baby oder Kleinkind in Südostasien war, weiß, dass es nahezu unmöglich ist, fremde Hände von den Kindern fernzuhalten. Auch in Südeuropa, etwa in Italien, gibt es gesellschaftlich weniger Hemmungen, ein Kind zu beherzen, egal ob fremd oder nicht. Für viele ist der Körperkontakt Ausdruck von Freude und Kommunikation. Deshalb stehen auf der anderen Seite der Debatte Menschen, auch Expertinnen, Psychologen und Pädagoginnen, die sich davor fürchten, dass wir immer mehr zu einer Distanzgesellschaft werden.

Kinder auf den Mund küssen

Wenn es um das Thema "Grenzen setzen" geht, sind die eigenen Eltern ein wichtiges Vorbild. Im Alter zwischen zwei und drei Jahren interessieren sich Kinder laut der Psychologin häufig für den Busen der Mutter oder den Penis des Vaters. Eltern müssen in dieser Phase ganz klar artikulieren, dass sie dort nicht angefasst werden möchten: "Nein, das ist meines, da greift niemand hin." Völkl-Kernstock findet: "Genauso können Kinder sanft zurückgewiesen werden, wenn sie den Eltern ein Bussi auf den Mund geben möchten."

Ob man Kinder auf den Mund küsst oder nicht, dafür gibt es keine eindeutigen Richtlinien. Auch Völkl-Kernstock möchte dazu keine Empfehlungen abgeben. Weil: "Jede Familie macht das anders." Aus der Praxis und der Präventionsarbeit weiß die Kinderpsychologin aber: "In vielen Familien ist es unüblich, dass Eltern ihre Kinder auf den Mund küssen. Der Mund ist für viele eine intime Zone, das kann man Kindern auch so beibringen." Was man dann sagt: "Schau, ich gebe dir ein Bussi auf die Stirn/Wange!" Am Ende sollte beim Kind immer die Botschaft ankommen: "Wenn mir etwas nicht gefällt, muss ich es nicht machen." Zumindest, wenn es dabei um den eigenen Körper, um Intimitäten geht.

Wenn man allerdings jedes Nein eines Kleinkindes akzeptiert, wird man im Alltag nicht mehr fertig. Nein beim Schuhe-Anziehen, Nein beim Zähneputzen, Nein beim Versuch, das Kind in den Wagen zu setzen. Völkl-Kernstock dazu: "Es ist wichtig, dass wir unsere Kinder ernst nehmen, ihnen auf Augenhöhe begegnen, aber es ist auch die Aufgabe von Eltern, ihr Kind zu erziehen und anzuleiten. Dazu gehört auch Grenzen zu setzen, um Werte zu vermitteln oder Gefahren sichtbar zu machen." (Nadja Kupsa, 24.8.2023)