Kurz vor den Wien-Konzerten wurden nun weitere Vorwürfe gegen Till Lindemann, den Sänger der deutschen Band Rammstein, erhoben. Und es sind schwere Vorwürfe. In vielem ähnelt der Bericht der Österreicherin jenen anderer weiblicher Fans bei Rammstein-Konzerten. Es soll gezielte Rekrutierungen für Sex während und nach der Show mit Lindemann gegeben haben. Dass es um Sex und nicht nur um Partys geht, hätten die jungen Frauen nicht gewusst, erzählen sie. Sie schildern Situationen, die sie nicht mehr hätten kontrollieren können. Jene Frau, die sich jetzt zu Wort meldete, sagt zudem: Sie habe klar und wiederholt Nein zu Sex mit Lindemann gesagt, der darauf mit harten Schlägen auf ihr Gesäß reagiert habe.

Rammstein
In Wien spielt Rammstein im Ernst-Happel-Stadion zwei Konzerte.
EPA/Anna Szilagyi

Die Anwälte von Till Lindemann weisen diese Vorwürfe als falsch zurück. Es gilt die Unschuldsvermutung, und das ist für viele Fans ausreichend für ihre ungebrochene Begeisterung für Rammstein, die nun in Wien gleich zweimal hintereinander im Ernst-Happel-Stadion spielen. Und es stimmt: Es gibt kein Urteil, sondern nur zahlreiche Berichte von Frauen.

Nur? Erschreckend viele Kommentare unter den Medienberichten über die Vorwürfe oder auch unmittelbar vor Konzerten befragte Fans zeigen, dass sie die Glaubwürdigkeit der Frauen reflexhaft als zweifelhaft einstufen. Dass die Frauen wohl vieles davon erfinden würden. Dass sie sich ganz bewusst in diese Lage katapultiert hätten, aus der sie nun im Nachhinein unnötigerweise eine Opfergeschichte stricken würden. Dass sie wohl ziemlich übertreiben würden, sie doch gewusst haben müssen, was passieren würde. "Was haben sie sich denn erwartet?", ist besonders oft zu hören und lesen.

In diesen Kommentaren steckt aber nicht nur die Haltung, Frauen müssten gefälligst ständig auf der Hut sein. Sie sind auch ein wesentlicher Grund, warum wir hinsichtlich sexualisierter Gewalt dastehen, wie wir dastehen: Sexualisierte Übergriffe jeglicher Art sind ein wenig geahndetes Verbrechen mit noch weniger juristischen Konsequenzen. Bei angezeigten Vergewaltigungen lag die Verurteilungsrate Ende der 2010er-Jahre nur bei etwas mehr als zehn Prozent. Hinzu kommt, dass nur neun Prozent der Betroffenen eine Vergewaltigung anzeigen. Die Dunkelziffer bei jeglicher Form von sexualisierter Gewalt ist hoch. Untersuchungen zeigen klar die Gründe auf: Angst vor Reaktionen des Umfelds oder Schuld- und Schamgefühle. Betroffene fragen sich, was sie falsch gemacht hätten, wie sie besser reagiert hätten.

Es sind genau diese Fragen, die wir – auch jetzt – ständig hören und die konsequent Zahlen und Expertisen ignorieren. Es geht bei weitem nicht nur um diesen konkreten Fall – um dieses konkrete Machtgefälle zwischen Star und Fans, um Millionen für die Verteidigung auf der einen Seite und Frauen auf der anderen, die keine Mittel für einen Rechtsstreit haben, vor Anzeigen zurückschrecken und sogar anonym bleiben müssen, um sich selbst vor Klagen zu schützen.

Es reicht nicht, sich zurückzulehnen und zu warten, ob es in solchen Fällen ein Urteil gibt oder nicht. Es braucht ein Bewusstsein für die Bedingungen, unter denen sexualisierte Gewalt passiert, verschwiegen und nicht angezeigt wird. Solange die wenigen, die reden, mit einer derartigen Selbstverständlichkeit diffamiert werden, werden viel zu viele schweigen. (Beate Hausbichler, 26.7.2023)