Der Protest gegen den Umbau des israelischen Justizsystems dauert mittlerweile seit Monaten an. Die Verfassungsjuristin Rivka Weill rechnet damit, dass sich die rechte Regierung auf noch viel mehr Widerstand wird einstellen müssen: Israel sei in seiner Gesamtheit eine Nation, die ihre Rechte und Freiheiten nicht ohne Weiteres aufgeben werde.

Video: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bezeichnete die von seiner rechts-religiösen Regierung vorangetriebene Reform als "kleine Korrektur". Die Proteste dagegen reißen nicht ab
AFP

STANDARD: Die Reaktionen in Israel auf den Justizumbau sind heftig: Laut einer Umfrage denken 28 Prozent der Menschen ans Auswandern. Können Sie das erklären?

Weill: Um zu verstehen, was hier los ist, muss man wissen, dass Israel eine extrem schwache Gewaltenteilung hat. Die einzige Macht, die der Regierung etwas entgegensetzen kann, sind die Generalstaatsanwältin und der Oberste Gerichtshof. Beide werden nun von der Regierung in die Defensive gedrängt. Die aktuelle Änderung des Grundgesetzes sieht vor, dass Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister nicht mehr vom Höchstgericht dahingehend geprüft werden, ob sie angemessen sind oder nicht. Da geht es zum Beispiel um Stellenbesetzungen oder auch darum, dass ein Minister sich weigert, etwas zu tun, was er eigentlich tun sollte.

STANDARD: Erklärt das aber die Empörung?

Weill: Jeder versteht, dass diese Änderung nur ein kleiner Teil eines umfassenden Programms ist. Die Regierung sagt selbst, dass noch viele weitere Schritte folgen werden. Was so schockierend ist, ist, dass die Regierung tatsächlich entschlossen war, diesen ersten Schritt zu tun – ohne Konsens, ohne Kompromiss, trotz aller Warnungen durch die Armee, durch Ökonomen, die USA. Deshalb gibt es extrem viel Sorge dahingehend, was noch kommen wird.

Proteste Israel Justizreform
Harte Polizeimethoden werden bei den Protesten gegen den Umbau der Justiz oft dokumentiert.
AP/Ohad Zwigenberg

STANDARD: Es geht also weniger darum, was beschlossen wurde, als vielmehr darum, was kommt?

Weill: Nicht ganz. Ärzte zum Beispiel sind besorgt über mögliche Eingriffe des Gesundheitsministers ins Management der Krankenhäuser oder in Stellenbesetzungen. Sie haben Angst, dass Entscheidungen über Jobs oder Budgets nach parteipolitischen, nicht aber nach fachlichen Kriterien getroffen werden.

STANDARD: Ist diese Angst begründet?

Weill: Sie ist begründet – in dem Sinne, dass diese Regierung aus extremistischen Kräften besteht. Und wir sehen schon jetzt, dass die Polizei beginnt, bei den Protesten schärfer einzuschreiten – das hat durchaus etwas mit der aktuellen Verfassungsänderung zu tun. Die ganze Polizeimacht basiert ja auf dem Grundgedanken, dass sie angemessen eingesetzt werden muss. Wenn nun die Regierung dem Gerichtshof die Angemessenheitsprüfung nimmt, dann ist die Botschaft: Ihr dürft euch ruhig unangemessen verhalten, das ist okay.

STANDARD: Die Regierung hat dem Höchstgericht mit der Prüfung der Angemessenheit nur eines von mehreren Werkzeugen weggenommen. Können sich die Höchstrichter auf kreative Weise Macht zurückholen?

Weill: Ich schlage genau das vor. Der Gerichtshof könnte zum Beispiel öfter prüfen, ob etwas willkürlich ist oder einen Interessenkonflikt beinhaltet. Diese Möglichkeit hat er – er muss sie nur nutzen.

STANDARD: Kritiker sagen, diese Prüfungsstandards können nicht alles ausgleichen. Und dass es Verwaltungsentscheidungen gibt, die in Zukunft keiner Kontrolle mehr unterliegen werden.

Weill: Das ist richtig. Und ich gebe zu, was ich vorschlage, ist innovativ. Ich schlage vor, dass der Gerichtshof einen neuen Weg einschlägt.

STANDARD: Und wird er das tun?

Weill: Das weiß niemand. Der Gerichtshof könnte natürlich auch den anderen Weg gehen und die aktuelle Verfassungsänderung aufheben. Das wäre aber extrem unkonventionell und riskant. Es wäre ein offener Krieg, von dem niemand weiß, wie er enden wird.

STANDARD: Weil die Gefahr besteht, dass die Regierung diese Gerichtsentscheidung nicht akzeptiert?

Weill: Ja. Und dann weiß niemand, wie man das auflöst und wer sich überhaupt noch an irgendetwas hält. Ich bin der Meinung, dass sich das Höchstgericht diese extreme Art von Eingriff für später aufheben sollte – für den Moment, wenn die Regierung stärkeren Einfluss auf die Richternominierung nehmen will.

STANDARD: Die Koalition hat das eingeleitet ...

Weill: Ja, und das macht mir große Sorgen. Wenn sich die Koalition ein Veto über die Richternominierungen verschafft, ist das das Ende der richterlichen Unabhängigkeit. Das wäre eine Katastrophe. Sobald man keine richterliche Unabhängigkeit mehr hat, kann man die Demokratie zusperren.

STANDARD: Die Regierung und die Befürworter des Justizumbaus behaupten, dass Israels Höchstgericht mächtiger sei als anderswo ...

Weill: Wenn man sich einen Gerichtshof als stark vorstellt, hat man die Funktion eines Gerichtshofs nicht verstanden. Gerichte sind auf die Kooperation der Exekutive angewiesen, um auch nur minimalen Einfluss zu haben. Wir sehen in Israel, dass viele Gerichtsentscheidungen erst gar nicht umgesetzt werden. Das beste Beispiel ist die ultraorthodoxe Community. Das Höchstgericht hat es mehrmals für grundrechtswidrig erklärt, dass die Ultraorthodoxen keinen Militärdienst leisten. Und was passiert? Nichts. Jetzt zu behaupten, dass der Gerichtshof so ein übermächtiger Körper wäre, geht an der Realität vorbei.

Rivka Weill israel verfassungsexpertin
Rivka Weill vertraut ihren nimmermüden Landsleuten.
Gilad Kavalerchik

STANDARD: Anhänger der Koalition argumentieren, es sei undemokratisch, wenn Entscheidungen gewählter Volksvertreter von nicht gewählten Richtern aufgehoben werden.

Weill: Eines ist wichtig zu verstehen: Egal was der Gerichtshof entscheidet, die Knesset kann es wieder aufheben, indem sie das Grundgesetz abändert – man braucht dafür ja nur eine einfache Mehrheit. Die Regierung tut so, als hätte sich der Gerichtshof plötzlich zu viel Macht gegeben. Es ist aber seit fast dreißig Jahren unverändert, verschiedene Regierungen waren damit einverstanden. Jetzt plötzlich alles zu verändern ist problematisch. Vor allem wenn man bedenkt, dass der Likud (Partei von Premier Netanjahu, Anm.) das im gesamten Wahlkampf nicht angekündigt hat. Sie behaupten, sie hätten von der Bevölkerung das Mandat für diese Veränderungen bekommen, aber das stimmt nicht.

STANDARD: Manche halten die Angst um Israels Demokratie für überzogen. Die nächste Regierung könne ja alles rückgängig machen ...

Weill: Es gibt viele Prozesse, die man kaum rückgängig machen kann. Diese Regierung ist sehr darauf bedacht, Macht auszuüben, indem sie "ihre" Leute in Schlüsselpositionen setzt. Das ist schwer zu revidieren. Einschlägige Richternominierungen und die Urteile, die sie fällen – das kann man nicht rückgängig machen. Ich würde argumentieren: Wahlen sind nicht ausreichend, um den Schaden zu beheben. Ich bin trotzdem optimistisch, was Israels Zukunft betrifft.

STANDARD: Was stimmt Sie optimistisch?

Weill: Ich vertraue den Leuten. Das ist eine Nation, die ihre Freiheiten und ihre Rechte nicht so leicht aufgibt. Wir sehen das ja an diesem erbitterten Widerstand. Ich glaube, wir werden eher Blut auf den Straßen sehen, bevor wir hier in Israel ein totalitäres Regime haben. Ich hoffe, es wird nicht so weit kommen. Es wird aber ein zäher Kampf.

STANDARD: Glauben Sie nicht, dass die israelische Protestbewegung irgendwann müde werden wird?

Weill: Ich glaube, die Leute verstehen, dass sie nicht den Luxus zum Müdesein haben. Es wird wohl erst schlimmer werden, bevor es sich zum Besseren verändert. Wir sehen den Währungsverfall, die Warnungen der Ratingagenturen, den Boykott gegen israelische Wissenschafter – es wird hart werden. (Maria Sterkl, 28.7.2023)