In Israel gehen derzeit Woche für Woche Zehntausende auf die Straße, um für eine unabhängige Gerichtsbarkeit und die Erhaltung der Demokratie zu demonstrieren. Dieses kleine Land im Nahen Osten ist weit und breit der einzige demokratische Staat in der Region, weit entfernt von Europa. Trotzdem ist dessen aktuelle Krise auch für uns bedeutsam.

Protest gegen das umstrittene Justizpaket der Regierung Netanjahu Ende Juli in Tel Aviv.
REUTERS/AMMAR AWAD

Israel wurde seinerzeit gegründet, um Juden aus aller Welt einen sicheren Zufluchtsort vor Verfolgung zu geben. "Eine Heimstätte" nannte das die britische Mandatsverwaltung. Für den Österreicher Theodor Herzl, den geistigen Vater des Zionismus, war freilich von Anfang an wichtig, dass dieses neue Gemeinwesen gleichermaßen ein jüdischer wie ein demokratischer Staat sein sollte. 75 Jahre lang ist das auch gelungen.

Für den Besucher aus Europa wirkte vor allem das weltoffene Tel Aviv denn auch wie ein Stück Europa im Orient. Die Kaffeehäuser an der Dizengoff-Straße erinnerten an ähnliche in Berlin oder Paris. Kein Wunder, dass unter den Demonstranten gegen die derzeitige Regierung viele westlich geprägte Intellektuelle und Akademiker sind, praktisch die ganze international höchst angesehene israelische IT-Branche, die hochprofessionellen Spezialeinheiten der Armee, Professoren und Journalisten. Und kein Wunder auch, dass es eine wachsende Bewegung im Lande gibt, die ans Auswandern denkt. Nicht zuletzt ausgerechnet nach Berlin, dorthin, von wo viele Israelis der vorangegangenen Generation einst geflohen sind.

Übergang in Diktatur

Aber inzwischen ist im Lande auch eine beachtliche rechts denkende Bevölkerungsgruppe entstanden – Ultraorthodoxe, Siedler, religiöse Nationalisten, kompromisslose Arabergegner ("Jerusalem erlösen"). Weil Ultraorthodoxe viele Kinder haben, wird diese Gruppe immer zahlreicher. Die Spaltung der israelischen Gesellschaft geht längst über den aktuellen Konflikt über die Kompetenzen des Obersten Gerichts hinaus und betrifft die Grundlagen des Zusammenlebens.

Dazu kommt als Hintergrund des Geschehens die nach wie vor ungelöste Palästinenserfrage. Nach dem faktischen Scheitern des Osloer Abkommens über die Teilung des historischen Palästina und die massenhafte jüdische Besiedlung des Westjordanlands ist eine Einigung ferner denn je. Wenn die derzeitige Rechtsregierung in Israel die Oberhand behält, so mutmaßen deren Gegner, ist die auch formelle Annexion der Palästinensergebiete jenseits der "Grünen Linie" nur noch eine Frage der Zeit. Und auch der Übergang in eine Diktatur.

Israel hat vor allem deshalb keine geschriebene Verfassung, weil sich die Forderung "jüdisch und demokratisch" in einem Land, in dem zwei Völker leben, schwer ausdrücken lässt. Staatsgründer Ben Gurion hat denn auch auf ein solches Dokument verzichtet. Wer hat recht? Tragik, sagte einst ein kluger Mann, besteht, wenn beide recht haben. Der Kampf um die Demokratie in Israel hat seine Wurzeln in der spezifischen Situation des Landes, aber er steht auch im Zusammenhang mit der weltweiten Krise der liberalen Demokratie im Wettstreit mit autoritären Strömungen – von Jerusalem über Washington bis Wien. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 3.8.2023)