Fallwickl Festspiele
Ihr Roman über die ständige Überforderung von Müttern, über ihre Einsamkeit und Wut, traf den Nerv vieler: die österreichische Autorin Mareike Fallwickl.
Gyöngyi Tasi

Eine Mutter wirft sich eines Tages während der Pandemie vom Balkon – das ist der Ausgangspunkt von Mareike Fallwickls Roman Die Wut, die bleibt. Die beste Freundin übernimmt die Mutterrolle, die älteste Tochter flüchtet sich in Gewalt. Die Salzburger Festspiele zeigen ab 18. August eine Dramatisierung des Erfolgsromans im Landestheater. Ein Gespräch mit der in Hallein bei Salzburg geborenen Autorin, die selbst zwei Kinder hat und mit ihrem Mann halbe-halbe macht.

STANDARD: Ich habe gelesen, dass Sie nur Bücher von Autorinnen lesen. Warum?

Fallwickl: Das war eine Trotzreaktion. Als vor drei Jahren die Vorschauen der Verlage wieder sehr männerdominiert waren, hat mich das empört. Die Menschen wollen neue Geschichten lesen: von Frauen, nichtbinären und Transpersonen. Bücher sollten die Gesellschaft abbilden, wie sie wirklich ist, und sie besteht nun einmal nicht ausschließlich aus älteren Cis-Männern.

STANDARD: Eine Saison später sah das Bild schon wieder anders aus. Haben Sie wirklich das Gefühl, es fehlen weibliche Stimmen in der Literatur?

Fallwickl: Auch aus den jetzigen Verlagsprogrammen schauen einen nur ernste Männerköpfe an. Bei Hanser waren im Frühjahr von 22 Büchern 14 von Männern. Um nur ein Beispiel zu nennen. Vor allem im Sachbuch sind die Zahlen erschreckend. Ich möchte die kleine Reichweite, die ich habe, nutzen, um Geschichten von Frauen eine Bühne zu geben.

STANDARD: Frauen lesen bei weitem mehr als Männer. Welche Themen, die sie betreffen, kommen nicht vor?

Fallwickl: Über 70 Prozent aller Bücher werden von Frauen gekauft, sie lesen sowohl Bücher von Frauen als auch von Männern. Männer lesen allerdings kaum Bücher von Frauen. Das liegt an der Sozialisierung – der literarische Kanon für die Schul- und Universitätsbildung lehrt nur den Blick auf die Welt aus Männeraugen. Mir gehen Bücher ab, die von heteronormativen Sichtweisen abweichen, die von Queerness erzählen, die die Kleinfamilie sprengen.

STANDARD: Kim de l’Horizon, selbst nichtbinär, hat mit dem queeren Roman "Blutbuch" voriges Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen.

Fallwickl: Daran sieht man, dass einiges in Bewegung geraten ist, und das macht mir Hoffnung. Verlage denken in Zahlen. In dem Moment, wo sie merken, dass man auch mit Frauen- und Queerness-Themen Geld machen kann, dass Menschen das lesen wollen, werden sie diesen Stimmen mehr Raum geben. Es ist vor allem der Pandemie zu verdanken, dass gerade die Perspektive von Müttern eine größere gesellschaftliche Bedeutsamkeit erlangt hat.

STANDARD: Sie haben in dieser Zeit mit "Die Wut, die bleibt" einen Bestseller über drei Frauen geschrieben, Mutter, Freundin, Tochter. Wie ist es dazu gekommen?

Fallwickl: Ich hatte bereits ein ganz anderes Buch fertig, als mir im Lockdown Anfang 2021 Mütter geschrieben haben, dass sie am Ende ihrer Kräfte sind, dass sie nicht mehr können und am liebsten vom Balkon springen würden. Das hat mich plötzlich elektrisiert. Im größten Homeschooling-Halligalli habe ich am Küchentisch meinen Laptop herangezogen und die erste Seite runtergeschrieben. Daraus entstand eine Geschichte, mit der sich viele identifizieren konnten. Viele Frauen und Mütter haben in der Pandemie das erste Mal verstanden, in welcher Situation sie sich befinden. Das gesellschaftliche Gaslighting, dass Frauen gleichberechtigt wären, hat nicht mehr funktioniert.

STANDARD: Sie schreiben über moderne Frauen, die Gleichberechtigung leben wollen, aber daran scheitern. Warum klappt’s einfach nicht?

Fallwickl: In unserer Geschichte wurden Weiblichkeit und Care-Arbeit nicht immer so stark verknüpft wie heute. Das hat sich erst mit dem aufstrebenden Bürgertum und der Verdrängung von Frauen in den Familienbereich im Zuge der Industrialisierung manifestiert. Es wird uns heute immer suggeriert, dass das Ganze biologisch begründet sei: Frauen sind nun mal die, die Kinder gebären und sich um sie kümmern müssen. Wir belasten mit den Geschlechterklischees nicht nur Frauen viel zu stark, wir geben auch Männern nicht die Möglichkeit, andere Rollen auszuprobieren. Es ist wichtig, zu sehen, dass Männer unter dem Patriarchat genauso leiden wie Frauen. Man muss nur die Suizid- und Alkoholismuszahlen anschauen, Gefängnisse sind bis unters Dach mit Männern gefüllt. Mit diesem System kann etwas nicht stimmen.

STANDARD: Warum wird das Thema der weiblichen Care-Arbeit in unserer Gesellschaft so vernachlässigt?

Fallwickl: Wer komplett mit Care-Arbeit eingedeckt ist, hat nicht die Energie, dagegen zu revoltieren. Das ist das eine, das andere ist, was man doppelte Vergesellschaftung nennt: Frauen haben mittlerweile zu Bildung und Beruf Zugang, gleichzeitig sind aber alle ihre anderen Aufgaben gleichgeblieben. Dadurch arbeiten sie quasi rund um die Uhr. Die Soziologin Franziska Schutzbach sagt, Elternschaft ist radikale Pausenlosigkeit. Auf dem Faktor unbezahlter Care-Arbeit beruht unser ganzes Wirtschaftssystem.

STANDARD: Das wird nicht thematisiert.

Fallwickl: Ja, das Interessante ist, dass man Wirtschaft studieren kann, ohne je zu erfahren, dass weltweit am Tag 16,4 Milliarden Stunden unbezahlte Care-Arbeit geleistet werden. In Österreich wären das während der Pandemie 45 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung gewesen.

STANDARD: Ich habe nicht das Gefühl, ich rede mit einer Schriftstellerin, sondern mit einer Soziologin. Recherchieren Sie viel?

Fallwickl: Der Zugang bei meinem jüngsten Roman war ein rein literarischer. Es ging mir um eine gute Geschichte, um Figuren, die aus dem Leben kommen, und natürlich um einen Spannungsbogen. Allerdings war mir schnell klar, dass ich jede Kamera und jedes Mikro, das mir vor die Nase gehalten wird, dazu nutzen will, um über die Themen, über die auch wir jetzt reden, zu informieren. Und dafür muss ich Zahlen und Fakten parat haben. Diese habe ich mir deshalb gezielt angeeignet.

STANDARD: Sie haben bereits 2019 mit "Das Licht ist hier viel heller" einen Roman über MeToo in der Kulturbranche geschrieben. Waren Sie sauer, als es in Bezug auf Benjamin von Stuckrad-Barres Roman "Noch wach?" hieß: Endlich gibt es einen deutschsprachigen MeToo-Roman?

Fallwickl: Sauer nicht, aber überrascht. Auch vor meinem gab es bereits MeToo-Romane. In meinem Roman geht es um einen Schriftsteller, der sich die Geschichten von Frauen aneignet und daraus einen Roman macht. Damals meinten einzelne Stimmen, damit käme heute kein Mann mehr durch. Dann hat Stuckrad-Barre genau das gemacht und wurde dafür gefeiert. Es hat sich für mich angefühlt, als ob die Romanhandlung wahr geworden wäre.

STANDARD: Der Roman ist auch deswegen interessant, weil darin die Salzburger Festspiele vorkommen. Allerdings mit wenig schmeichelhaften Worten. Wie fühlt es sich an, dass eine Dramatisierung von "Die Wut, die bleibt" dort aufgeführt wird?

Fallwickl: Es freut mich, dass es ein Stoff wie meiner zu den Festspielen schafft. Ich bin die einzige Autorin im Schauspielprogramm, und ich lebe sogar noch. Mein Stück könnte eine Handgranate sein, die wir zünden, um Strukturen von innen aufzubrechen.

STANDARD: Eine Handgranate? Dass Mütter oft mit Care-Arbeit allein gelassen werden, ist keine ganz neue Erkenntnis.

Fallwickl: Das ist ja auch nur ein Strang des Romans. Der andere handelt von weiblicher Gewalt. Es geht darum, wie Frauen sich gewaltsam den öffentlichen Raum zurückerobern. Diese Umkehrung löst viel Unbehagen aus, weil wir daran gewöhnt sind, dass Gewalt von Männern ausgeht und Frauen nicht zurückschlagen dürfen. Die Frage, die der Roman stellt, lautet: Wie destruktiv muss Wut sein? (Stephan Hilpold, 5.8.2023)