Konzertbühne
Wie Turbo-Folk an verschiedenen Orten – etwa in der Wiener Ottakringer Straße oder in Belgrad – unterschiedlich rezipiert wird, will eine Musikwissenschafterin ergründen.
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Vor Mitternacht wird man selbst in den Clubs der als "Balkanmeile" bekannten Ottakringer Straße kaum Turbo-Folk zu hören bekommen. Dafür müsse erst eine spezielle Stimmung erzeugt werden, die, ja, auch mit Alkohol zu tun hat. Davor brauche es zum Aufwärmen etwas Leichteres, wie englische Popmusik, meint etwa einer der Clubbesitzer.

Für ein Pilotprojekt über die Bedeutungszuschreibungen an Turbo-Folk in Wien ist die Musikwissenschafterin Lena Dražić durch Lokale der Ottakringer Straße gezogen, hat dort Menschen beobachtet, kennengelernt und sie zu ihren Musikvorlieben befragt. "Bei der Frage nach ihrer Lieblingsmusik sagen die Leute dort ‚Turbo-Folk‘. Allerdings ist das für die Leute, mit denen ich gesprochen habe, ein sehr weiter Begriff", sagt Dražić, die zuletzt Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien war. Die Ergebnisse ihrer ethnografischen Feldforschung sind wegen des kleinen Samples nicht repräsentativ, aber sie ergeben ein in den Grundzügen übereinstimmendes, modernes Stimmungsbild einer Musikrichtung, die zu ihrer Hochblüte durchaus für Kontroversen gesorgt hat.

Umstrittene Sängerin

Zeitsprung ins Jahr 1995. Der Bosnienkrieg ist noch im Gange, als die Turbo-Folk-Sängerin Svetlana "Ceca" Veličković am 19. Februar in Belgrad Željko Ražnatović heiratet. Der unter dem Namen "Arkan" bekannte Gangster und Kommandeur der an den Jugoslawienkriegen beteiligten paramilitärischen Einheit "Serbische Freiwilligengarde" wird später vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag für Kriegsverbrechen angeklagt und 2000 unter ungeklärten Umständen in Belgrad ermordet. Die im Staatsfernsehen übertragene Hochzeit wird zum öffentlichen Spektakel und zur symbolischen Heirat "der zwei großen serbischen Leidenschaften der Ära" stilisiert, Ethnonationalismus und Turbo-Folk, erklärt Dražić.

Nach einer Auszeit setzte Ceca, die in der Folge selbst wiederholt ins Visier der Strafverfolgung geriet, ihre Karriere fort. Bis heute ist die umstrittene Sängerin mit Hits wie Beograd oder Kukavica einer der größten Stars des Genres und füllt auch regelmäßig die Säle in Wien. Bei einem aufgrund der Corona-Pandemie ausnahmsweise eher schütter besuchten Konzert 2020 in der Pyramide Vösendorf, das Dražić selbst besuchte, war von Ethnonationalismus jedenfalls nichts mehr zu bemerken, schildert die Musikwissenschafterin ihre persönliche Erfahrung.

Beim Turbo-Folk mischen sich Elemente traditioneller Volksmusik vom Balkan mit Pop-Rock, House und Techno sowie orientalisch und lateinamerikanisch anmutenden Rhythmen und Stilmitteln. Traditionelle Instrumente wie Akkordeon oder Schlagzeug sind meist Keyboard und Drumcomputer gewichen. Gesungen wird mit pathetischem Tremolo, es geht vielfach um Herzschmerz mit recht traditionell verteilten Geschlechterrollen. Das kann bei Gegnern fast schon allergische Abwehrreaktionen hervorrufen, bei Anhängern wie Interpretinnen – sehr oft handelt es sich um weibliche Stars – ist aber die ganz große Emotion im Spiel. Die Lieder spornen Club- wie Konzertbesucher zum Tanzen, Weinen und vor allem zum Mitsingen an.

Gemeinsame Identität

"Es ist quasi ein gemeinsames Kulturgut. Im Mitsingen wird noch einmal so eine gemeinsame Identität erschaffen, die offensichtlich nicht mehr entlang ethnischer Grenzziehungen abgesteckt wird", sagt Dražić. Als einigender Faktor komme hinzu, dass Menschen mit einer Migrationsgeschichte aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens in Österreich einer Minderheitsgesellschaft angehören – und das von der Dominanzgesellschaft zu spüren bekommen. Das schweißt zusammen, ebenso wie ein sentimentales Gefühl für die Vergangenheit, das oft von Verlusterfahrungen geprägt ist: "In den Befragungen hat sich durchgezogen, dass die Lieder mit Erinnerungen verbunden sind, die sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein können."

Die Erfolgsgeschichte von Turbo-Folk außerhalb seines Ursprungsgebiets ist nicht zuletzt auf dessen Verbreitung durch Sender wie TV Pink oder TV Palma zurückzuführen. Dazu kommen die alljährlichen Konzerte der Stars in Städten wie Wien, das über eine der größten migrantischen Populationen aus dem ehemaligen Jugoslawien verfügt. Im engeren Sinn ist Turbo-Folk aber ein "historisch abgeschlossenes Genre", verweist Dražić auf nachfolgende Entwicklungen.

Generationenwandel

Ungefähr ab 2000 mischen sich zunehmend Pop-Elemente in diese Musik, und ab Mitte der 2010er vollzieht sich mit dem Trap-Folk überhaupt ein Generationenwandel. Dabei wird mit Anleihen an den international erfolgreichen Trap-Stil auf Bosnisch-Kroatisch-Serbisch gerappt und gesungen. Turbo-Folk taucht etwa als Sample im Song Samo jako (Relja x Coby x Stoja) auf und erweckt so auch bei den Jüngeren einen Retrotrend.

Was Dražić nun über diese Pilotstudie hinaus interessiert, ist die Bedeutungszuschreibung des Genres an unterschiedlichen Orten: "Der Großteil der Forschung steht noch bevor." Als Nächstes will sie sich ansehen und -hören, wie Turbo-Folk heute in Belgrad, am Ort seiner Entstehung, wahrgenommen wird. Die Vermutung liege nahe, dass Turbo-Folk es in Wien greller krachen lässt als "zu Hause", wo der Turbo zum ganz normalen Alltag gehört und längst nicht mehr so zündet wie auf dem Laufsteg der Ottakringer Straße. (Mario Wasserfaller, 15.8.2023)