Friedhof von Butscha
Der Friedhof von Butscha.
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Alexander kommt einige Minuten zu spät zum vereinbarten Termin. Sein Kumpel Vlad überbrückt die Zeit mit Smalltalk über Fußball und seinen Lieblingsklub Feyenoord Rotterdam. Als Alexander auf dem Campus der Uni Leiden in den Niederlanden erscheint, trägt er schwarze Lackschuhe, graue Hose, weißes Hemd, ein Cookie in der Hand – ein typischer Student in Den Haag.

Doch Alexander trägt auch eine Camouflagejacke. Er ist tags zuvor von einem weiteren Frontbesuch im Donbass zurückgekehrt, hat die vergangenen Nächte in einer Moschee mit Artilleriebeschuss im Ohr verbracht. Die Jacke bekam er von befreundeten Soldaten, damit er nachts trotz Ausgangssperre weiterfahren durfte. Bei Menschen, die die Frontkämpfer unterstützen, wird da und dort ein Auge zugedrückt, auch wenn Dokumente fehlen.

Die Recherche gibt es auch als Podcast bei Thema des Tages zu hören.

"Project Mariupol"

Alexander hat zivile Drohnen, Gasmasken, Verbandszeug und Medikamente in die Ostukraine gebracht und seine Kontakte vor Ort gepflegt. Schon tags darauf wird der 22-Jährige einen Allrad-SUV an die ukrainisch-polnische Grenze überstellen. Seit Kriegsbeginn war der Niederländer mit ukrainischen Wurzeln etliche Male in der Ukraine und mehrmals an der Front. Seine ukrainische Mutter weiß davon nichts. "Sie glaubt, ich fahre nur nach Polen mit humanitärer Hilfe."

Mit humanitärer Hilfe hat auch die Freundschaft von Alexander und Vlad, ebenfalls Anfang zwanzig und Niederländer mit ukrainischen Wurzeln, begonnen. Kurz nach Ausbruch des Krieges im Vorjahr hatten sich die "Students for Ukraine" gebildet, und so habe man plötzlich viel Zeit miteinander verbracht. Der Krieg schweißt zusammen. Nachdem einige Bekannte zum Kämpfen in die Ukraine gegangen waren, begann Alexander damit, diese aktiv mit Material zu versorgen. Schon bald aber war es den beiden sowie einem dritten, derzeit in der Türkei verweilenden Studenten ein Anliegen, noch mehr zu tun.

Die Welt müsse wissen, was "on the ground" passiert. Zu viel Schreckliches geschehe jeden Tag, oft sehe man in Medien aber nur Ausschnitte davon, einen Zoom auf bestimmte Ereignisse. Das kategorische Brechen internationalen Völkerrechts drohe aber unterzugehen, wenn man es nicht gesammelt aufzeige. Unter dem Namen "Project Mariupol" entwickelten die Studenten deshalb eine interaktive Karte, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren – und der Auftakt für "Osint for Ukraine".

Theater von Mariupol
Auch das Theater von Mariupol wurde zum Symbol der russischen Invasion.
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Internetdetektive

Osint steht für Open Source Intelligence und bedeutet quasi-nachrichtendienstliche Arbeit, jedoch aus Basis frei im Internet verfügbarer Informationen. Für gewöhnlich wird Osint am Laptop daheim gesammelt und analysiert. Genau diese Analyse der Inhalte ist es, was Osint-Experten von den einfachen News-Aggregatoren unterscheidet, die nur Videos von Telegram ziehen und diese für Likes auf Twitter reproduzieren, heißt es in der Szene unisono. Dennoch machten viele heutige Osint-Experten ihre ersten Schritte genau so.

Die Frontbesuche von Alexander sind weniger Osint im eigentlichen Sinne. Sie helfen der mittlerweile auf 60 Personen angewachsenen Gruppe in Den Haag aber bei der Analyse der Geschehnisse vor Ort. Wer in die – männlich geprägte – Szene eintaucht, merkt schnell, dass Kontakte auch hier oft das wahre Gold sind.

Im STANDARD-Gespräch erklärt Jakub Janovský, Osint-Experte beim global renommierten Militäranalyseblog Oryx, dass auch sie auf Kontakte bauen können, die tief in die Militär-, Geheimdienst- oder Kriegsberichterstatterszene reichen. Oryx, von ehemaligen Mitarbeitern des investigativen Recherche- und Factchecking-Netzwerks Bellingcat gegründet, hat sich erstmals im syrischen Bürgerkrieg oder im armenisch-aserbaidschanischen Krieg einen Namen gemacht. Spätestens mit der Invasion Russlands in der Ukraine haben es Oryx-Recherchen in alle großen Medien weltweit geschafft. Gerüchteweise würden viele Militärgeheimdienste bei veröffentlichten Berichten einfach Oryx-Daten abschreiben, heißt es in der Szene. Janovský streitet das schmunzelnd zumindest nicht ab.

Vlad und Alexander vor einem Gebäude der Uni Leiden
Vlad (links) und Alexander vor einem Gebäude der Uni Leiden in Den Haag. Gemeinsam mit "60 Menschen mit einem guten Herz" wollen sie russische Kriegsverbrechen in ihrer Gesamtheit dokumentieren und archivieren.
Foto: Fabian Sommavilla

Eine Nische suchen

Oryx ist besonders gut in der visuellen Verifikation von Waffenlieferungen sowie militärischen Verlusten. Kursieren Videos zerstörter westlicher Leopard-Panzer oder sowjetischer T-80, schaut man am besten auf dem Oryx-Blog nach, ob es sich dabei nicht womöglich um ein altes Video oder um einen längst reparierten Panzer handelt.

Dass jede Seite im Krieg übertreibe, sei nichts Neues, sagt Janovský. Vom russischen Verteidigungsministerium aber habe er "in den vergangenen zehn Jahren keine einzige Aussage gehört, die nicht gelogen war", kritisiert er Moskau. Dass Russland mehr Himars-Mehrfachraketenwerfer-Systeme zerstört haben will, als vom Westen jemals geliefert wurden, ist nur ein solches Beispiel.

Für Neueinsteiger in die Osint-Szene hat Janovský einen Rat: Spezialisiert euch auf ein Gebiet! Das empfiehlt auch Aric Toler, der Leiter der Forschungs- und Ausbildungsabteilung von Bellingcat. Er rät dazu, sich ein Gebiet zu suchen, in dem man Vorkenntnisse einsetzen kann – und darin richtig gut zu werden. "Egal ob Verfolgung von Flug- und Schiffsdaten, Geolokalisieren von Videos oder Verschiebungen auf dem Schlachtfeld: Finde deine Nische, und werde gut darin! Willst du bezahlt werden dafür, werde besser als die anderen", rät Toler im STANDARD-Gespräch angehenden Internet-Factcheckern. Auch große internationale Medien bauen mittlerweile eigene Osint-Teams auf.

Laptop
Studierende sammeln die Verbrechen für einen systematischen Überblick.
Fabian Sommavilla

Pioniere der Datenanalyse

Die Mitarbeiter des Bellingcat-Netzwerks gelten als die absolut Besten auf dem Gebiet. Auch Bellingcat betreibt eine Karte, die Kriegsverbrechen auflistet. Die Osint-Plattform, die seit dem Brexit ihr Hauptquartier in Amsterdam hat, lieferte mit der Analyse der Bewegungen jenes Raketenwerfers, der das Flugzeug MH17 im Juli 2014 über der Ostukraine abschoss und dabei alle 298 Insassen tötete, die entscheidenden Beweise für die russische Urheberschaft. Sie fanden die russischen Geheimdienst-Agenten, welche den übergelaufenen Agenten Sergei Skripal im englischen Salisbury vergifteten, und halfen bei der Rekonstruktion der Vorgänge, wie die Pentagon-Leaks zum Ukrainekrieg ihren Weg ins Internet fanden.

"Wir waren und sind immer noch federführend, was State-of-the-Art-Datenanalyse betrifft", sagt auch Giancarlo Fiorella, Senior Researcher bei Bellingcat, zum STANDARD.

Internationaler Strafgerichtshof in Den Haag
Kriegsverbrechen werden vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag untersucht.
Fabian Sommavilla

Recherchen für die Zukunft

Viele Bellingcat-Recherchen würden einen sofortigen Effekt nach sich ziehen, erklärt Aric Toler. Sanktionen gegen Individuen können verhängt werden oder Verhaftungen erfolgen. Manche Projekte hingegen wären langfristiger angelegt. Das Justice-and-Accountability-Team (J&A) von Bellingcat, dem auch der venezolanisch-kanadische Kriminologe Fiorella angehört, macht es sich etwa zur Aufgabe, Tausende von Videos, Bildern und Audiofiles für einen mehrjährigen Zeithorizont zu dokumentieren. Sollte es in zehn Jahren zu einer Wahrheits- oder Versöhnungskommission oder einem Tribunal kommen, werde man diese Beweise verwenden können, sagt Toler. Auch für Historikerinnen, Juristen und Menschenrechtsaktivistinnen sei die Dokumentationsfunktion relevant.

Für die besonders heikle Aufgabe, wasserdichte Beweise zu liefern, die auch in ferner Zukunft noch den Ansprüchen gerecht werden, hat sich Bellingcat strengstmögliche Regeln zur Arbeit im J&A-Team auferlegt. Zwischen J&A und der tagesaktuellen Arbeit wurde die sogenannte Firewall errichtet. Wer J&A-Arbeit macht, kann nicht gleichzeitig Artikel schreiben oder öffentlich auftreten. Zu groß wäre die Gefahr, dass eine Verteidigung vor Gericht die Zulassung der Beweise wegen Befangenheit bekämpft. Die Recherchearbeit wird auf eigens eingerichteter Infrastruktur erledigt, jedes Beweisdokument kategorisch archiviert, um nicht von gelöschten Tweets oder umgeschriebenen Seiten überrumpelt zu werden.

Beweismittel
Ermittlerinnen sichern laufend Beweismittel für Kriegsverbrechen.
Fabian Sommavilla

Gelöschte Beweise

Die Wichtigkeit dieser Maßnahmen bestätigt auch Janovský von Oryx. Durch überhastetes Löschen und Sperren ganzer Channels während des syrischen Bürgerkriegs hätten zahlreiche Internetplattformen – ob Youtube, Twitter oder Facebook – wertvolle Informationen für immer vernichtet. Der Tscheche plädiert daher dafür, bestimmte Inhalte, die der Allgemeinheit nicht zugemutet werden können, hinter Schranken zu stellen, wo Forscher und Nachrichtendienste weiterhin darauf zugreifen können.

Während manche Osint-Experten wie Alexander sich auch auf ihre Kontakte berufen, hat Fiorella in fünf Jahren Arbeit noch keine einzige Quelle jemals direkt angeschrieben. Oft wäre es einfacher, die Leute einfach zu fragen, wo und wann ein Video aufgenommen wurde. Da begebe man sich aber sofort in Abhängigkeiten und laufe Gefahr, belogen zu werden. Bei Bellingcat setzt man daher auf die ursprünglichste Form der Osint-Recherche: Nur was öffentlich zugänglich ist, wird verwertet und ausgewertet – mithilfe von Meta- oder Satellitendaten. "Wir müssen hoffen, dass jemand etwas filmt und hochlädt", sagt Fiorella. Das Smartphonezeitalter sei deshalb ein großes Glück, sagt er. Der Drang, alles auf sozialen Medien zu teilen, sei riesig. Man profitiere also auch von der Dummheit mancher Soldaten, sagt Fiorella. Er erinnert etwa an die alle halben Jahre aufpoppenden Geschichten von Militärangehörigen, die durch Teilen ihrer Laufrouten auf diversen Apps den Gegnern zum Opfer fallen. So ist der Ukrainekrieg wohl der dank Smartphones bislang am besten dokumentierte Krieg – bis eine zukünftige Technologie noch mehr Daten liefern wird.

"Wir werden auch nach Kriegsende weitermachen. Schau, wie viel in Syrien noch immer ans Licht kommt!" - Vlad

An der Datenlage mangelt es im Ukrainekrieg aber schon heute keinesfalls. Schon vom syrischen Bürgerkrieg, der immerhin seit 2011 andauert, existieren bereits mehr Stunden Videomaterial, als Stunden seit 2011 vergangen sind. Alle Personen, mit denen der STANDARD im Zuge dieser Recherche sprechen konnte, klagen jedoch über Erschöpfung und fehlende Ressourcen, was sich in längeren Bearbeitungszeiträumen niederschlägt.

Denn viele machen diese Arbeit nicht haupt- oder nebenberuflich, sondern widmen sich in ihrer Freizeit der Aufklärung. Ein Mitgründer von Oryx gab erst kürzlich die Leitung wegen eines Burnouts ab. Nach Ende des Ukrainekriegs will man die ehrenamtliche Arbeit einstellen. Auch bei Osint for Ukraine müssen bestimmte Aufgaben geschoben werden, weil neben dem Studium nicht immer Zeit bleibt. Und das Studium leidet wiederum unter dem Krieg. "Wie soll ich am selben Tag, an dem Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin mit seiner Truppe in Richtung Moskau marschiert, eine Prüfung schreiben?", fragt Vlad. Er habe sie abgesagt und sei vor dem Handy gesessen.

Alexander bei seiner ehrenamtlichen Arbeit.
Fabian Sommavilla

Überbelastung

Die Überbelastung der Online-Detektive wirft unweigerlich die Frage auf, warum sich ein paar Studentinnen und Studenten, ein paar Privatleute sowie privatwirtschaftlich organisierte Recherchenetzwerke überhaupt darum kümmern müssen und dies nicht auf multinationaler Ebene gelöst wird – etwa durch Ermittler des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), den immerhin 123 Staaten anerkennen?

Interviewanfragen an den IStGH in Den Haag wurden aus Termingründen abgelehnt. Zu inhaltlichen Details laufender Ermittlungen wolle man sich aber ohnehin nicht äußern, hieß es. Nur weil das Nichtmitglied Ukraine seit dem Donbass-Krieg und der Maidan-Bewegung 2014 die Rechtsprechung des IStGH auf seinem Boden akzeptiert und dutzende Staaten den Gerichtshof mit der Bitte um Ermittlungen angerufen haben, kann der britische Chefankläger Karim Khan mit seinem Team dort überhaupt arbeiten. Im Falle der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland gibt es bereits einen lebenslang aufrechten Haftbefehl gegen Russlands Präsident Wladimir Putin. Rund um zahlreiche weitere Verdachtsmomente wird aktuell ermittelt.

Zerstörtes Gebäude in der Region Kharkiv
Immer wieder nehmen russische Raketen und Drohnen auch Zivilisten ins Visier.
APA/AFP/IHOR TKACHOV

Unterstützende Tätigkeit

Tatsächlich haben sich sowohl ehemalige als auch aktuelle Mitarbeiter des Strafgerichtshofs in ihrer Freizeit bereits an der Arbeit von Osint for Ukraine beteiligt. Zwei Berichte habe man zudem schon dem Gericht überreicht, welche "jeweils sehr gut aufgenommen wurden", sagen Alex und Vlad.

"Sie brauchen Organisationen wie uns oder Bellingcat dringend, sie brauchen die Informationen von NGOs und Staaten für ihre Arbeit", sagt Vlad. "Wir ergänzen zudem die Geschichten, die persönlichen Schicksale hinter den Opfern", fügt Alexander an. Beide gestehen sich trotz Kritik am IStGH ein, dass dieser neben der Ukraine nun einmal auch zahlreiche andere Krisenherde zu bewältigen habe. Da gelte es, den IStGH eben bestmöglich zu unterstützen. "Wir werden auch nach einem etwaigen Kriegsende weitermachen", sagt Vlad. "Schau, wie viel in Syrien noch immer ans Licht kommt." Auch dank der Arbeit von Osint-Experten. (Fabian Sommavilla aus Den Haag und Amsterdam, 12.8.2023)