Menschen in Bunker in Odessa
Menschen suchen Zuflucht in einem Bunker in Odessa, 26.7.2023. Es grenzt an ein Wunder, dass bei den dutzenden Luftangriffen seit Ende Juli bisher nur ein Mensch ums Leben gekommen ist.
EMILE DUCKE/The NewYorkTimes/Red

Es ist mittlerweile fast zum Ritual geworden. In den Momenten, in denen er das eine Glas zu viel getrunken hat, bricht das schlechte Gewissen aus Nikita hervor: "Es war immer mein Lebenstraum – aber um ihn zu erfüllen, dafür hat es einen Krieg gebraucht. Gottverdammt."

Die Wirtin stellt das Tablett mit der nächsten Runde Wodka auf den Tisch und schüttelt den Kopf. Dann setzt sie sich zu ihm, streichelt seine Wange und sagt: "Es ist nicht deine Schuld. Das Wichtige ist, dass du tust, was du tust: dass du den Leuten hilfst. Krieg oder kein Krieg. Komm." Sie hebt das Glas. Nikita und der Rest am Tisch, der sich an diesem heißen Sommerabend an der Ecke Koblevska- und Soborna-Straße im Zentrum von Odessa versammelt hat, tun es ihr gleich: "Slava Ukraini! Heroyam Slava! Nastrovje!" – "Ruhm der Ukraine! Den Helden Ruhm! Prost!"

Nachbarschaftsbeisl mit Herz

Das Lokal namens Sieben Winde, in dem der studierte Psychologe und seine Freundinnen und Freunde an den Wochenenden auf den Sieg gegen die russischen Invasoren anstoßen, gehört zu einer Art, die in westlichen Metropolen fast schon ausgestorben ist: ein Nachbarschaftsbeisl, in dem die alteingesessenen Berufsalkoholiker ebenso in Frieden ihren Kummer ertränken wie junge Hipster und mittelalte Akademiker.

Nikita und seine Freunde gehören fast ausnahmslos zu letzterer Kategorie. Vor rund einem Monat saßen sie alle ein halbes Dutzend Straßenblocks weiter, "geschneuzt, gekampelt" – und stocknüchtern. Der Anlass war ein festlicher: die Eröffnung des Equilibrium, eines Zentrums für psychologische Hilfe, das Nikita maßgeblich mit aufgebaut hat.

So etwas wie ein Lebenswerk

Für den Enddreißiger, der sich in seiner Freizeit für LGBTIQ-Rechte engagiert, ist es so etwas wie sein Lebenswerk. Vom Schreibtisch bis zur Klobrille hat er sich praktisch um alles selbst gekümmert. Seine Idee, für die er die Unterstützung der niederländischen Flüchtlings-NGO Stichting Vluchteling gewinnen konnte, war simpel: eine so niederschwellig wie möglich gehaltene Anlaufstelle für jede Odessiterin und jeden Odessiter, die oder der psychologische Hilfe in Anspruch nehmen will. "Die Ukraine hat noch immer eine sehr konservative Gesellschaft. Die Leute geben es nicht gern zu, wenn sie mentale Probleme haben", sagt Nikita. "Die Idee ist deshalb, es ihnen so leicht wie möglich zu machen. Bei uns können sie einfach vorbeikommen – ohne vorherige Absprache oder Termin."

Damit, dass er und sein kleines Team der Nachfrage schon jetzt, nur Wochen nach der offiziellen Eröffnung, nicht mehr hinterherkommen, hatten sie indes nicht gerechnet. Zwischen 50 und 60 Leute schauen täglich in der Velyka-Arnautska-Straße vorbei, wo das Equilibrium im vierten Stock eines Neubaus untergebracht ist. "So stressig es ist: Es läuft alles besser, als wir es uns erträumt haben. Das macht es leichter, weil ich dadurch keine Zeit zum Nachdenken habe", sagt Nikita. "Das Einzige, das mir ein bisschen Angst macht, ist, dass wir direkt unterm Dach untergebracht sind."

Ein Angriff nach dem anderen

Eine Sorge, die er im Sommer 2023 mit tausenden Odessitern teilt, deren Arbeitsplätze und Wohnungen in den obersten Stockwerken liegen. Seit Ende Juli erlebt die Schwarzmeermetropole die schwersten Angriffe seit dem Beginn der russischen Invasion in der gesamten Ukraine. Angesichts der schieren Menge an eingesetzten Drohnen und Raketen gleicht es einem Wunder, dass bei den Angriffen der Schwarzmeerflotte bisher nur ein Mensch ums Leben kam.

Nicht dass das Leben in Odessa schon vorher leicht gewesen wäre: Seit über eineinhalb Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem nicht mindestens einmal die Sirenen heulen, die vor einem drohenden Luftangriff warnen. Meistens bleibt es bei Warnungen, weshalb die meisten Odessiter oft gar nicht mehr darauf achten. Ein Gewöhnungseffekt, der schon früh eintrat und paradoxerweise der guten Informationspolitik der lokalen Militärverwaltung geschuldet ist: Jedes Mal, wenn der Luftalarm ausgelöst wird, posten deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Sekunden später auf den populärsten lokalen Social-Media-Plattformen – allen voran Telegram und Facebook – eine Nachricht, in der die Gefahr so konkret wie möglich beschrieben wird. Als Konsequenz daraus entstand ein in Odessa – wie aber auch anderswo in der Ukraine – praktisch täglich praktiziertes Ritual.

Nachricht von Telegram
Krieg im Jahr 2023: Der Luftalarm kommt via Telegram auf die Handys.
Telegram

Durch Telegram alarmiert

Dem Alarm folgt der umgehende Blick aufs Smartphone. Je nachdem, welcher Natur die Gefahr ist, sucht man entweder Schutz – oder man ignoriert sie. Letzteres kommt öfter vor als Ersteres. Warum? Ein konkretes Beispiel: Jedes Mal, wenn etwa von russischen oder belarussischen Flugfeldern Kampfjets vom Typ Mig-31 aufsteigen, wird überall in der Ukraine der Luftalarm ausgelöst. Weil es sich dabei aber oft nicht um Angriffs-, sondern um Trainingsflüge handelt, bleibt das in der Regel folgenlos. Die Odessiter kosten derartige Machtdemonstrationen des Aggressors nicht einmal mehr ein müdes Lächeln.

Ernst nehmen sie die Warnsignale nur dann, wenn die Nachricht lautet wie jene aus der Nacht vom 18. auf den 19. Juli, abgesendet um 23.02 Lokalzeit: "DROHNENALARM! Start von unbemannten Fluggeräten vom Typ Shaheed in den besetzten Gebieten. Sollten sie binnen der nächsten Stunde im ukrainischen Luftraum auftauchen, wird in den betroffenen Regionen zeitnah der Alarm ausgelöst. UPDATE: Aktivität auf der für Kampfeinsätze reservierten Frequenz der russischen Kommunikationsleitstelle für strategische Luftfahrt. Strategische Bomber vom Typ Tu-22M3 haben Befehle zum Aufsteigen erhalten."

Zwischen dem Aufsteigen der Bomber und dem Erreichen ihrer Abschusspositionen über dem Kaspischen oder dem Schwarzen Meer vergehen in der Regel zwischen eineinhalb und zwei Stunden.

"Alles in Deckung!!!!"

Die Nachrichten, die von der Militärverwaltung zu diesem Zeitpunkt auf Telegram-Kanälen wie "Odessa Info" verbreitet werden, lauten so: "ALARM! Über dem Schwarzen Meer werden zwei Rauchtürme gesichtet. Es sieht aus, als ob ein Abschuss von Raketen vom Typ Kalibr stattgefunden hätte." (0.56 Uhr)– "ACHTUNG! Raketen auf dem Weg in die Region Odessa." (0.57) – "ACHTUNG! Fünf bis sechs Raketen auf dem Weg in die Region Odessa." (0.59)– "Tschornomorsk und Odessa: Alles in Deckung!!!! Raketen in der Luft, hundert Kilometer von uns entfernt." (1.01)– "EXPLOSIONEN. In Deckung!" (1.04)

Seit Ende Juli wiederholte sich diese Abfolge in diesem Teil der Ukraine zigmal. Mal trifft es die Stadt, mal die südwestlich von ihr liegenden Donauhäfen Izmail, Reni und Ust-Danube. Mal feuern die Russen konventionelle Marschflugkörper vom Typ Kalibr, Onyx oder Iskander ab. Mal vergleichsweise unkonventionelle wie die Luft-Boden-Raketen vom Typ Kh-22. Diese erreichen nach Abschuss eine Geschwindigkeit von bis zu 5600 Kilometern pro Stunde – eine Waffe, gegen die Odessas Luftabwehr machtlos ist. Ebenso wie die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die bis heute mehrheitlich nicht Ukrainisch, sondern Russisch sprechen.

Moskau meldet Abschuss ukrainischer Drohne über der Hauptstadt
Die russische Luftabwehr hat eigenen Angaben zufolge über Moskau eine ukrainische Drohne zerstört. Die Ukraine habe in der Nacht einen Angriff "mit einem unbemannten Luftfahrzeug gegen Objekte in Moskau und der Region Moskau" gestartet, erklärte das russische Verteidigungsministerium.
AFP

Panik, Apathie, Alkohol, Drogen

Die psychischen Belastungen, die mit einem Leben unter solchen Bedingungen einhergehen, zeigen sich entsprechend. "Als wir das Zentrum geplant haben, hatten wir erwartet, dass die meisten Leute mit – unter Anführungsstrichen – ,ganz normalen‘ mentalen Problemen zu uns kommen: Depressionen, Schizophrenie, bipolare Störungen und so weiter", sagt Nikita. "Aber in den vergangenen Wochen kamen Dutzende, die nicht mehr mit der Situation umgehen können. Panikattacken sind noch das Wenigste. Die Menschen haben die ganze Zeit Angst. Nicht nur um sich selbst, sondern um ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Freunde. Manche werden aggressiv, andere verfallen in Apathie. Viele beginnen zu trinken oder nehmen Drogen."

Ein Problem, das Nikita aus erster Hand kennt: Sein Partner Sascha, ein bekannter Moderator im Lokalfernsehen von Odessa, mit dem er sich eine kleine Wohnung in der historischen Altstadt teilt, erlitt jüngst einen Bandscheibenvorfall. So schlimm das auch war, so froh war Nikita, dass sein Liebster wochenlang im Krankenhaus liegen musste: Denn dort bekam er keinen Alkohol.

Was aus Odessa werden soll, wenn die Russen die Stadt weiter beschießen, wie und wann sie wollen? Nikita zuckt mit den Schultern: "Ich weiß es nicht, aber es hilft alles nichts. Wir müssen weitermachen. Unser Leben leben, arbeiten und genießen, wann immer es geht. Erst wenn wir das nicht mehr tun, haben sie gewonnen."(Klaus Stimeder aus Odessa, 19.8.2023)