Blaues Bild mit Männerkopf von der Seite
Die Warnhinweise hat Thomas Reinbacher zu lange ignoriert.
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Promotion sub auspiciis an der TU Wien in technischer Informatik, danach Forscher am Nasa Ames Research Center in Kalifornien, dann der Wechsel in die Privatwirtschaft zu McKinsey in München, es folgte die Leitung des Alexa-Produktteams bei Amazon, 2021 ging es beruflich zu Google – als Manager im Bereich künstliche Intelligenz: Der Karriereweg von Thomas Reinbacher ging immer steil nach oben. Bis eines Tages gar nichts mehr ging.

"Bei mir hat im Leben immer alles funktioniert, ich bin nie auf die Nase gefallen. Deshalb hab ich mir das Muster antrainiert: 'Das schaff’ ich schon, wenn ich ein bisschen mehr mache'", sagt der heute 38-Jährige. Dann kam der 16. September 2021 – die Zäsur in seinem Leben. Corona-Beschränkungen bestimmten den Alltag. Auch Reinbacher arbeitete remote und folgte einer bewährten Routine. Als Erstes wurden die E-Mails gecheckt. "Die Mails, die ich bekommen habe, habe ich nicht mehr verstanden. Ich bekam Panik: Hilfe, mein Hirn funktioniert nicht mehr", beschreibt er heute diesen Tag. Das irgendetwas nicht stimmte, merkte er aber auch bei einfachen Sachen, erzählt er. Er wollte für seinen Sohn, der 2020 zur Welt kam, Nudeln fürs Mittagessen machen und hat auf die Soße vergessen. Diesen Zustand könne man nur schwer erklären. "Es ist eine Grundnervosität, die mit großer Angst gepaart ist. Und du sitzt da: Ich kann nicht mehr lesen, ich kann nicht mehr arbeiten – was heißt das jetzt?"

Hoher Druck, kaum Schlaf

Seine Frau, die er als sehr durchsetzungsstark beschreibt, habe dann seine Symptome gegoogelt. Das Ergebnis: Depression. Ihre Recherche hat auch ergeben, dass die Universitätsklinik München dafür eine Anlaufstelle ist. Sie fuhren hin.

Retrospektiv betrachtet, gab es für die erste Depressionsepisode eindeutige Warnsignale. Er habe immer schlechter geschlafen – es gab Nächte, in denen es nur noch zwei, drei Stunden waren. "Der Druck in der Arbeit ist aber dennoch da, auch, wenn man kaum schläft." Wiederkehrende Angstzustände, dass seine Frau ihn verlassen könnte. Dazu kommt, dass die junge Familie in München auf kein großelterliches Back-up zurückgreifen konnte. "Meine Frau kommt aus Peking, ihre Eltern leben dort, meine Eltern wohnen in Niederösterreich." Die familiären Aufgaben habe er total unterschätzt, auch weil der Sohn an chronischer Bronchitis litt.

Thomas Reinbacher
Thomas Reinbacher hatte bis zu seinem Doktorat einen Notendurchschnitt von 1,0. Auch seine berufliche Karriere verlief großartig.
privat

Zwischen den beruflichen Wechseln gab es für ihn keinen Tag Pause. "Ich habe den Laptop von Amazon zurückgeschickt, und am selben Tag den von Google aufgemacht." Google war sein Traumarbeitgeber, und er wollte um jeden Preis auch dort seine Karriere weiter vorantreiben. Gerettet habe ihn in dieser angespannten Situation ein zweiwöchiger Urlaub. "Nach der Rückkehr ist das Kartenhaus aber eingestürzt."

In der Universitätsklinik München war die Diagnose eindeutig: Depression, mit ambulanter Therapie nicht mehr zu schaffen. Es folgte ein teilstationärer Aufenthalt im Krankenhaus, die Nächte verbrachte er zu Hause bei seiner Familie, in der Früh ging es wieder ins Klinikum. "Ich hab das als Projekt gesehen. Aber für eine Depression gibt es keine Checklist, für mich als Naturwissenschafter war das ein absolutes Chaos." Diese Zeit sei nicht einfach gewesen, für ihn war das ein sehr krasser Umstieg. "Raus aus der Hochleistungsmaschinerie, und dann sitzt du da, und die Tages­höhepunkte sind das Frühstück und das Mittagessen. Dazwischen hast du eine Stunde Qigong."

Zurück ins alte Leben

Drei Monate verbrachte er in teilstationärer Behandlung, danach erfolgte der Wechsel in ein ambulantes Setting. Die schwierigste Aufgabe hatte er aber noch vor sich: Die Rückkehr in den Job. "Ich wollte wieder zurück in mein altes Leben, denn dafür hab ich vor der Depression so viel gegeben."

Nach sieben Monaten startete er wieder bei Google mit der betrieb­lichen Wiedereingliederung. "Mein Arbeitgeber hat alles möglich gemacht, die falschen Entscheidungen habe ich getroffen", sagt Reinbacher heute. Das ging acht Wochen gut. Er habe seine Leistungsfähigkeit total überschätzt – Schlaflosigkeit und Grübelschleifen, aus denen er nicht mehr herauskam, Suizidgedanken. Die Medikamente zeigten keine Wirkung. Der zweite Absturz war noch heftiger. Es folgte die Unterbringung auf der psychiatrischen Station (umgangssprachlich: die Geschlossene). "Das war der schrecklichste, aber auch der wichtigste Tag in meinem Leben." Zehn Tage verbrachte er dort. Sämtliche medikamentöse Maßnahmen blieben anfangs wirkungslos. Trotz starker Schlafmittel konnte Reinbacher weiterhin keinen Schlaf finden. Er lief die Gänge auch nachts auf und ab. "In Socken, damit ich niemanden aufwecke. Daneben habe ich nichts mehr gegessen und getrunken, meine Nieren drohten zu versagen." Damals habe er gedacht, er werde die Station als Pflegefall verlassen.

Neue Wege gehen

Es ist anders gekommen, die behandelnden Ärzte versuchten eine neue medikamentöse Therapie, und sie half. Ohne einen finanziellen Polster wäre das alles nur schwer möglich gewesen. "Irgendwann gibt es auch kein Krankengeld mehr", erzählt er. Auch die Unterstützung durch Freunde und Familie war für die Genesung essenziell. "Ärzte sagen absichtlich nicht, wie lange die Therapie dauert, damit man nicht aufgibt." Bei ihm waren es nach der ersten Diagnose mehr als 200 Tage in psychiatrischer Behandlung. "Ich hab eine zweite Chance bekommen, dafür bin ich sehr dankbar." Sein eigenes Wertesystem habe sich geändert. Ständig weiterkommen zu wollen war sein früherer Anspruch, heute fühle sich das nicht mehr so richtig an, sagt Reinbacher.

Aus seinen Erfahrungen hat er das Buch Nach Grau kommt Himmelblau geschrieben – aus der Perspektive eines Betroffenen, ergänzt mit Hilfestellungen und Wissenswerten rund um das Thema. Auch andere Betroffene, Angehörige und Freunde kommen zu Wort. Darüber hinaus sind für den Herbst Pro-bono-Vorträge über psychische Gesundheit an Hochschulen und Schulen in Vorbereitung – auch weil er während seiner langen Bildungskarriere kein einziges Mal etwas zum Thema mentale Gesundheit gehört habe. Für weitere berufliche Entscheidungen sei es noch zu früh. Dafür möchte er sich noch Zeit nehmen, denn er weiß, "eine dritte Episode würde die Familie nicht verkraften". (Gudrun Ostermann, 26.8.2023)