Gerhard Zsutty bewegt sich in seinem Museum wie in einer Bibliothek. Anstelle von Büchern stehen Ziegel in den Regalen. Lehmgelbe, graue, braune, rostrote – jeder mit Inventarnummer versehen. Zsutty entführt im Ziegelmuseum in Wien-Penzing in die Vergangenheit. Die hat viel mit seiner Person zu tun. Der 84-Jährige ist auf der Wieden aufgewachsen. Dort, im vierten Bezirk, hat er als Kind gespielt, auf Trümmern. Damals gab es wenig von allem, doch Ziegel gab es genug – geheimnisvolle Zeichen hatten die eingebrannt. Deuten konnte sie der Sechsjährige nicht, aber sie übten auf den Knirps große Faszination aus. Man spürt sie noch heute.

Auf dem historischen Bild steht eine Familie, Mann, mehrere Frauen und Kinder, es sind ehemalige Vösendorfer Ziegelarbeiter und Ziegelarbeiterinnen.
Sie schufteten als Lehmscheiber, Mörtelschmiererinnen (Maltaweiber), Ziegelschläger, auch die Kinder wurden eingespannt – die Ziegelarbeiter lebten unter erbärmlichen Bedingungen.
Wiener Ziegelmuseum

Manche der Ziegel hat Zsutty eigenhändig ausgegraben. In Fischamend zog er "den Fisch aus der Fischa": In den Ziegel ist das Wassertier eingebrannt. Jeder Backstein hat eine Geschichte. Heute kann Zsutty, der lange als Geologe und Paläontologe im Ausland war, sie lesen. Es gibt zu tun: Bei 21.000 Stück ist er heute.

Hotspot der Ziegeleien

Viele kommen vom Wienerberg. Wer sich mit Ziegeln beschäftigt, landet automatisch auf dem kleinen Bergrücken im zehnten Bezirk. Dort gibt es heute Einkaufszentren, Hotels, Golfplätze, Wohn- und verglaste Bürotürme, paradiesisch anmutende Naherholungsgebiete – und vor allem viel Verkehr. Wer auf einem der Aussichtsplätze im Erholungsgebiet Wienerberg steht, schaut bis über Wiener Neustadt hinaus. Vor 200 Jahren hätte er hier vor allem eines gesehen: viele rauchende Schornsteine. Heute ist vom Gestern wenig präsent. Gemeindebauten und ein paar wenige Täfelchen zeugen von der Vergangenheit. Dabei hat es sich hier einst richtig abgespielt.

Die Gegend rund um den Wienerberg war im 19. Jahrhundert der Hotspot der Ziegelindustrie. Zsutty hat im Museum, einige Kilometer Luftlinie entfernt, eine große Karte an die Wand gehängt – rote Punkte, gelbe Punkte, dort, wo einst in Wien Ziegeleien waren. Es gab einige; ein richtiges Imperium, wo in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 8000 Menschen arbeiteten, fand sich auf dem Wienerberg. Begonnen hat alles mit einem Mann namens Alois Miesbach, Tscheche und Sekretär beim Fürsten Kaunitz. Der junge Miesbach kam viel herum und war von Ziegelbauten so fasziniert, dass er seinen Job an den Nagel hing, eine Ziegelei in Inzersdorf pachtete und bald darauf kaufte. Um 1820 legte er den Grundstein für den Weltkonzern Wienerberger, der seinen Hauptsitz heute in der Triester Straße hat – sinnigerweise heißt der Gebäudekomplex "The Bric". Wo einst schwarze Zuckerbrause in Flaschen abgefüllt wurde, entstand vis-à-vis der Wienerberg-City die Biotope-City auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen. An die Ziegelvergangenheit erinnert allenfalls die Backsteinoptik der Wienerberger-Zentrale. Die Vergangenheit: planiert.

Gerhard Zsutty zeigt im Wiener Ziegel- und Baukeramikmuseum auf einen Ziegel - auf diesem ist eine Fisch eingebrannt.
Gerhard Zsutty kann in den Ziegeln lesen wie in einem Buch. Schon als Kind haben ihn die eingebrannten Signaturen interessiert.
Bruckner

Wer über sie etwas wissen will, spricht mit Zsutty. Er weiß, warum hier alles begann: Auf dem Wienerberg gab es das Rohmaterial Meereston, Transportwege und den Absatzmarkt vor der Tür. Das Geschäft florierte. Miesbach durfte bald als Hoflieferant den kaiserlichen Adler führen und "gravierte" ihn in seine Ziegel ein.

"Mit ein Grund für den Erfolg waren die vielen nach Wien strömenden Arbeitskräfte – aus Italien, Kroatien, Tschechien, der Slowakei", sagt Wirtschaftshistoriker Peter Eigner von der Uni Wien. Es ist die Zeit um 1870, in der der zehnte Bezirk entsteht. Miesbach hat sich um seine Leute gekümmert, baute Wohn- und Krankenhäuser – und er schluckte Konkurrenten. Als er 1857 kinderlos starb, erbte sein Neffe Heinrich Drasche und baute weiter aus. Ebenfalls ein tüchtiger, aber auch ein eitler Mann, sagt Eigner. Er setzte sich mit dem prachtvollen (im Zweiten Weltkrieg zerstörten) Heinrichshof am Ring selbst ein Denkmal. Wie sein Vorgänger profitierte auch Drasche vom Bauboom der Gründerzeit.

Auf dem Rücken der Zugewanderten

Wien schwoll größenmäßig drastisch an. Arbeitskräfte waren gefragt – die Millionen an Ziegeln, die es für die Prachtbauten der Ringstraße brauchte, wurden händisch hergestellt. Ganze Familien kamen aus Böhmen und Südmähren, sie gingen als "Ziegelböhm" in die Geschichte ein. Als Drasche 1869 sein Imperium an ein Bankenkonsortium verkaufte (er blieb Hauptaktionär), wurden die Wienerberger Ziegelwerke in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Für die Arbeiter brachen nach den steinharten nun dramatische Zeiten an. Aus den Arbeiterwohnhäusern wurden Baracken. Oft teilten sich fünfzig Leute oder mehr einen Raum. Hygienische Zustände und Arbeitsbedingungen waren katastrophal.

Das blieb dem Armenarzt Victor Adler nicht verborgen. Ende 1888 schlich er sich in die Wienerberger-Werke ein und wirbelte mit seinem Zeitungsbericht über "die Lage der Ziegelarbeiter" die Öffentlichkeit auf. Die in den Stadtpalais sitzenden Bürger konnten die Augen vor dem Elend nicht mehr verschließen. 1888/89 kam es zur Gründung der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. 1890 begannen sich die Ziegelarbeiter zu organisieren, "zentral für die Gewerkschaftsbewegung", sagt Historiker Eigner. 1895 erkämpften die Arbeiter durch blutige Streiks Verbesserungen. Dann kamen Maschinen, Kriege, Zwangsarbeiter, weitere Entbehrungen. Wienerberger hat all das überlebt und gilt heute – wie einst – als weltgrößter Ziegelhersteller.

Gerhard Zsutty zeigt einen Ziegel her, auf dem die Buchstaben A und M zu finden sind, dazwischen ein Adler. 
Alois Miesbach hat die Sache in Wien so richtig zum Laufen gebracht. Er durfte sich bald Hoflieferant nennen und den kaiserlichen Adler führen, weiß Gerhard Zsutty.
Bruckner

Geblieben sind auch viele der damals Zugewanderten. Der pensionierte Lehrer Franz Fiala (hier geht es zu seiner detailreichen Homepage) gehört dazu. Fiala hat tief in seiner Familiengeschichte gegraben. Der Grund war Jörg Haider. Seither hatte er den Eindruck, hier unerwünscht zu sein. Was er dachte, war: "Der meint ja mich". Fialas Großvater kam aus Tschechien. Er hatte das Glück, ein Zeugnis als Schlosser mitzubringen. So blieb ihm das Schicksal der "Ziegelböhm" erspart. Fiala geht heute oft im Erholungsgebiet Wienerberg spazieren. "Wunderschön", sagt er, "aber dort weiß ja keiner, wie viel die Leute da einst gelitten haben."

Cornelia Dlabaja, Stadtforscherin an der FH der Wirtschaftskammer Wien, gibt ihm recht. Sie hat ebenfalls tschechische Vorfahren. Menschen, die an der Stadt Wien gebaut haben. Die Geschichte komme vor Ort viel zu wenig vor, findet sie. "42 Prozent der Wiener und Wienerinnen haben Migrationsgeschichte, es ist unsere Geschichte, nicht die der anderen." Dlabaja beschäftigt sich auch mit der Frage nach dem Recht auf Stadt und sozialer Ungleichheit. Sie verweist darauf, dass die Triester Straße eine Schneise schlage zwischen dem George-Washington-Hof, ein riesiger, denkmalgeschützter Gemeindebau – und den neuen Wohntürmen. Eine Motivation zu sozialer Durchmischung sei das nicht. Dazu komme: "Die Wienerberg-City stammt aus der Generation des privatisierten Städtebaus – ohne Bezug zu nehmen auf die Geschichte, anders als in der Gründerzeit", urteilt Dlabaja. Ziegelforscher Gerhard Zsutty gräbt dennoch weiter – weiter in der Vergangenheit. (Regina Bruckner, 2.9.2023)