Kompass
Wie kam es dazu, dass sich die Welt gegen den Westen wandte?
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In Nigers Hauptstadt Niamey und anderen Städten in Westafrika werden die Botschaften und Kultureinrichtungen Frankreichs, der ehemaligen Kolonialmacht in der Region, von Demonstranten attackiert. In Südafrika ging vor kurzem ein Gipfel zu Ende, bei dem sich elf Staaten unter dem Namen Brics+ mit einem Ziel zusammenschlossen – die politische und wirtschaftliche Vorherrschaft der USA und Westeuropas zu brechen. Und dutzende mehr wollen sich dem von China dominierten Klub anschließen. Weltweit nehmen Eliten im Globalen Süden die brutale Aggression Russlands gegen ein Nachbarland achselzuckend hin und sind bereit, die westlichen Sanktionen gegen Moskau aktiv zu sabotieren.

Verständnis des Westens

Im dritten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts scheint dem Westen seine Attraktivität, ja sogar seine moralische Legitimität verlorenzugehen. Die Mehrheit der Weltbevölkerung will von all dem, wofür die reichen westlichen Staaten stehen, nichts mehr hören.

Im Westen stößt diese Haltung auf Verständnis: Schließlich hätten sich die europäischen Staaten durch Jahrhunderte des Kolonialismus schuldig gemacht, heißt es. Die USA wiederum würden bis heute den Rest der Welt ihre militärische und wirtschaftliche Macht spüren lassen. Und mit seinem riesigen CO2-Fußabdruck und unfairen Handelsbedingungen würde sich der gesamte Norden immer noch auf Kosten des Südens bereichern und sei für Klimakrise, Unterentwicklung und Hungersnöte verantwortlich.

Sehnsuchtsort Nummer eins

Seltsam aber, dass die Eliten all dieser Schwellen- und Entwicklungsländer lieber Zeit in New York, London oder Paris verbringen als in Moskau oder Peking und ihre Kinder auf amerikanische oder britische Universitäten schicken. Die Millionen Migranten, die auf der Suche nach einem besseren Leben alles riskieren, streben in die USA, in die EU oder nach Australien – nicht nach China oder Saudi-Arabien. Der scheinbar unbeliebte Westen bleibt für den Großteil der Menschheit der Sehnsuchtsort Nummer eins.

Das liegt nicht nur am materiellen Überfluss, den die Industriestaaten zu bieten haben. Bei allen Mängeln, die die meisten westlichen Demokratien in der Realität aufweisen, stehen nur diese Länder heute für jene Werte, die in der Charta der Vereinten Nationen und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben wurden – und zu denen sich fast alle Staaten der Welt per Unterschrift verpflichtet haben. Schutz vor staatlicher Willkür, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit, gleiche Rechte für Minderheiten und für Frauen, eine unabhängige Justiz sowie Respekt für alle persönlichen Lebensformen werden heute fast ausschließlich in den liberalen Demokratien garantiert.

Diese Prinzipien einzufordern, wie es westliche Regierungen laufend tun, ist nicht Ausdruck postkolonialer Arroganz, wie es Vertreter eines kulturellen Relativismus behaupten. Das wissen all die Menschen, die Tag für Tag vor Unterdrückung in den Norden fliehen.

Soldat vor Botschaft
Niger entzieht dem französischen Botschafter den diplomatischen Status und ordnet seine Ausweisung an
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Unterschiedliche Werte

Natürlich sollen andere kulturelle Werte respektiert werden. Aber gilt das auch für die Unterdrückung der Frauen in Afghanistan oder die Verfolgung von Homosexuellen in vielen afrikanischen Staaten? Freie Wahlen mögen nicht immer der beste Weg zu einem funktionierenden Staatswesen sein, aber Einparteiensysteme, manipulierte Urnengänge und Putsche sind es noch viel weniger.

In der Wirtschaft, so lautet der Vorwurf, trete der Westen vor allem in Form großer Banken, internationaler Organisationen wie Währungsfonds und Weltbank und mit unzähligen Beratern auf, die den Regierenden im Süden stets die gleichen neoliberalen Rezepte aufzwingen, die Millionen ins Elend stoßen. Es stimmt: Nicht jeder Rat, der auf dem Washingtoner Konsens beruht, erweist sich in der Praxis als richtig. Aber mit der Ausnahme Chinas, dessen Wirtschaft allerdings nun auch schwächelt, hat kein Land mit Alternativen zu einer westlich inspirierten Marktwirtschaft je nachhaltigen Wohlstand geschaffen. Aufgeblähte Staatssektoren, unfinanzierbare Subventionen und Überregulierungen, die zur Korruption einladen, tragen in Afrika, Asien und Lateinamerika entscheidend dazu bei, dass die Wirtschaft nicht wächst und sich die Kluft zum reichen Norden nicht schließt. Wer die Schuld für Unterentwicklung in der Ausbeutung durch westliche Konzerne sieht, der muss nur schauen, was mit Ländern geschieht, wo kein Konzern investiert. Dort ist die Armut stets am größten.

Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat sich in der internationalen Politik eine Kluft zwischen dem westlichen Bündnis und dem Globalen Süden geöffnet. Die offene Aggression gegen einen souveränen Staat wird selbst von Ländern hingenommen, die sonst auf die Unverletzbarkeit internationaler Grenzen pochen – etwa China und Indien. Das erstaunt und erschreckt.

Nützliche Partner

Auch US-Regierungen verletzen das Völkerrecht, wenn Ideologie oder Interessen dazu verleiten. Diktatoren werden in Washington und europäischen Hauptstädten hofiert oder zumindest freundlich toleriert, wenn sie als nützliche Partner gelten.

Dennoch: Unter Führung des Westens wurden in den vergangenen Jahrzehnten internationale Normen entwickelt, die im schwierigen Spannungsfeld zwischen der Anerkennung staatlicher Souveränität und dem Universalismus der Menschenrechte einen realistischen Mittelweg suchen und – zwar nicht immer, aber meist – finden. Die Alternative zur liberalen Weltordnung, die unter Führung Chinas nun propagiert wird, scheint auf das Gegenteil hinauszulaufen: Die Nichteinmischung selbst bei schlimmsten Verstößen gegen die Menschlichkeit wird zum obersten Prinzip erhoben, aber außer Kraft gesetzt, wenn es Großmachtinteressen dient. Dann zählt nur noch die Macht des Stärkeren, sowohl im Inneren als auch nach außen.

Bei einem Gipfel in Südafrika schlossen sich kürzlich 11 Staaten unter dem Namen Brics zusammen.
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Bedrohliche Taktik

Wem soll eine Welt nützen, die auf solchen Prinzipien fußt, außer Tyrannen und Aggressoren? Diese sind es auch, die die antiwestlichen Instinkte ihrer Bevölkerungen am häufigsten bedienen, weil ihnen das beim Machterhalt hilft. Die Tatsache, dass diese Taktik in so vielen Ländern funktioniert, ist ein Alarmsignal für alle, die sich eine freie, wohlhabende und friedliche Welt wünschen.

Während das Schwinden der wirtschaftlichen Dominanz der USA und der EU eine positive Entwicklung darstellt, weil es die Zunahme an Wohlstand in anderen Weltregionen widerspiegelt, ist der Verlust an "soft power", an weicher Macht, eine für alle bedrohliche Tendenz. Weder chinesische Autokratie noch indischer Ethnonationalismus oder russischer Imperialismus sollten die in der UN-Charta verankerten Prinzipien verdrängen, die auf der westlichen Aufklärung basieren.

Dem zu entgegnen ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit. Westliche Werte sind universelle Werte. Sie wegen der Sünden des Kolonialismus zu verwerfen macht das historische Unrecht nicht wieder gut – im Gegenteil. Der Globale Süden hat dennoch recht, einen Umgang auf Augenhöhe einzufordern. Westliche Intellektuelle und Politiker müssen mit der richtigen Mischung aus Einsicht und Selbstbewusstsein auf jene zugehen, die aufgrund historischer Umstände anders denken. Von ihrer Überzeugungskraft hängt viel ab – für Milliarden von Menschen. (Eric Frey, 3.9.2023)