Zwei Kindergartenkinder gehen Hand in Hand über einen Zebrastreifen.
Die Regierung möchte in mehr Kinderbetreuungsplätze investieren.
APA/dpa/Uwe Anspach

Wien – Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat im ORF-"Sommergespräch" am Montag angekündigt, 4,5 Milliarden Euro bis 2030 in den Ausbau der Kinderbetreuung investieren zu wollen. Familienministerin Susanne Raab hat dies bei einem Pressegespräch am Dienstag bekräftigt. Damit will man 50.000 zusätzliche Plätze schaffen. Mit dem Plan gehe man nun in die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund und Ländern, sagte Raab, die eine "echte Wahlmöglichkeit" bei der Gestaltung des Familienalltags garantieren will.

Bei den von Nehammer im gestrigen ORF-"Sommergespräch" angesprochenen 4,5 Milliarden Euro handle es sich um das Gesamtvolumen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden, das es brauche, damit alle Familien mit Ende 2030 garantiert einen Betreuungsplatz für Kinder ab dem ersten Lebensjahr erhalten. Die Zahl sei das Ergebnis einer Analyse, die man gemeinsam mit dem Wirtschaftsforschungsinstitut EcoAustria erstellt habe. Das Institut sei derzeit dabei, das Konzept weiter zu verfeinern.

"ZiB"-Video: Nehammer-Vorstoß bei Kinderbetreuung
ORF

Verschiedene Altersgruppen, verschiedener Bedarf

Für verschiedene Altersgruppen wurden aufgrund unterschiedlichen Bedarfs nun auch unterschiedliche Ziele definiert. Bei den vom Rat der EU empfohlenen Barcelona-Zielen für die Kinderbetreuung würden hingegen alle unter Dreijährigen in einen Topf geworfen, kritisierte Raab. Bei den Ein- bis Zweijährigen sind 27 Prozent in Betreuung, in Zukunft soll für über 50 Prozent von ihnen ein Platz zur Verfügung stehen. Bei den Zwei- bis Dreijährigen sind rund 60 Prozent in Betreuung, 90 Prozent von ihnen sollen künftig einen Platz erhalten. Hingegen seien nur zwei Prozent der Kinder unter einem Jahr in Betreuung. Hier bestünde vielfach der Wunsch, das Kind zu Hause zu betreuen, sagte die Ministerin, die dennoch auch für die unter Einjährigen mehr Plätze schaffen will. Insgesamt sollen bis 2030 50.000 weitere Kinderbetreuungsplätze geschaffen werden. Ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung würde derzeit hingegen "ins Leere" gehen, weil es die notwendigen Plätze nicht gebe, sagte die Ministerin.

Sie orte ein Momentum, beim Thema Kinderbetreuung neue Wege zu gehen, zeigte sich Raab in Bezug auf den Finanzausgleich zuversichtlich. Man werde mit dem Konzept im Rahmen der Finanzausgleichsverhandlungen an die Bundesländer herantreten. Sie sei überzeugt, dass es möglich sei, einen Weg zu finden, um das Gesamtvolumen auf die Beine zu stellen.

Familienministerin Susanne Raab
Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) will die Kinderbetreuungsplätze ausbauen.
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Der Bund unterstütze die Bundesländer bereits seit 2008 beim Ausbau der Kinderbetreuung. Seither habe sich etwa die Betreuungsquote der unter Dreijährigen von 14 Prozent auf 32 Prozent mehr als verdoppelt. Im Zuge einer 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern wurde im letzten Jahr auch eine "Kindergartenmilliarde" (je 200 Millionen Euro über fünf Jahre) beschlossen. "Jetzt haben wir uns das Ziel gesetzt, das Tempo ordentlich zu erhöhen", sagte Raab.

Erst im vergangenen Mai hatten sich Bund und Länder in einer 15a-Vereinbarung auf eine "Kindergartenmilliarde" geeinigt, die bis 2026/27 eine Aufstockung der Ländermittel durch den Bund um jährlich 200 Millionen Euro vorsieht. Aus der Praxis und von den Sozialpartnern wurde das als deutlich zu gering kritisiert, um das Angebot auszubauen und die Arbeitsbedingungen in dem stark von Personalmangel betroffenen Feld zu verbessern. Das Personal der Kindergärten war in den vergangenen Monaten mehrfach für bessere Rahmenbedingungen auf die Straße gegangen.

Auch Bedarf bei Betreuungspersonal

Dafür brauche es nicht nur das notwendige Platzangebot, sondern auch eine qualitativ hochwertige Kinderbetreuung und ein gutes Arbeitsumfeld für Pädagoginnen und Pädagogen. Diesbezüglich sei es auch notwendig, mit den Bundesländern über eine Angleichung der unterschiedlichen Qualitätskriterien zu sprechen. Man müsse mehr Personal für den Ausbau finden, erklärte bereits Nehammer im ORF-"Sommergespräch" zur Problemstellung. Bildungsminister Martin Polaschek (ÖVP) werde diesbezüglich in den nächsten Tagen Vorschläge präsentieren, verkündete Raab.

Die Konformität mit dem Vereinbarkeitsindikator für Familie und Beruf (VIF) stellt für Raab einen weiteren Faktor beim Ausbau der Kinderbetreuung dar. Damit Eltern auch in Vollzeit arbeiten können, sollen Einrichtungen mindestens 45 Stunden sowie an fünf Tagen in der Woche und 9,5 Stunden täglich geöffnet haben. Ganzjährig sollen sie mindestens an 47 Wochen geöffnet haben, die Kinder müssen außerdem mit einem Mittagessen versorgt sein. Nur rund 50 Prozent der Kinder über drei Jahren sind derzeit in VIF-konformen Einrichtungen, die Zahl soll auf 75 Prozent erhöht werden. Bei den unter Dreijährigen belegen rund 60 Prozent VIF-konforme Plätze, alle neu geschaffenen Plätze sollen ebenfalls VIF-konform sein.

SPÖ: "Wer soll der ÖVP noch irgendetwas glauben?"

Die Opposition und Gewerkschaften haben skeptisch auf Nehammers Ankündigung, die finanziellen Mittel für Kinderbetreuung aufzustocken, reagiert. SPÖ-Bundesgeschäftsführer Klaus Seltenheim nannte den Vorstoß in einer Aussendung "vollkommen absurd", immerhin habe Nehammer "jahrelang keinen Finger dafür gerührt" und seine Partei habe 2016 in der SPÖ-ÖVP-Koalition den fertig ausverhandelten Ausbau der Kindergärten "aus parteitaktischen Gründen sabotiert".

FPÖ-Familiensprecherin Rosa Ecker sprach von einem "leicht durchschaubaren verfrühten Wahlzuckerl" Nehammers, abgesehen von der Personalnot seien nämlich die Kosten für die Umsetzung eines Rechtsanspruchs für die Gemeinden nicht zu stemmen. Neos-Familiensprecher Michael Bernhard forderte den Kanzler und die Bundesregierung auf, sie mögen "den schönen Worten endlich einmal Taten folgen lassen". Skeptisch zeigte er sich auch beim Rechtsanspruch und erinnerte daran, dass eine entsprechende Forderung der Neos in ÖVP-FPÖ-regierten Bundesländern als "Zwangsarbeit für Frauen" und Anschlag auf "normale" Familien bezeichnet wurden. "Wer soll der ÖVP also noch irgendetwas glauben?"

ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker warf der Opposition wegen ihrer Reaktionen auf das Nehammer-Interview "zwanghaftes Schlechtreden von Österreich" vor. Die Bundesregierung habe mit "historischen Schritten" den Wohlstand des Landes geschützt, nun investiere man 4,5 Milliarden Euro, um Familien die besten Chancen bieten zu können. "Das zeigt, dass die Bundesregierung für die Menschen in unserem Land arbeitet, während die Opposition parteipolitisches Hick-Hack betreibt."

Gewerkschaft befürchtet "Marketingschmäh"

Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl betonte, dass die von Nehammer angekündigten 4,5 Milliarden erst einmal im Finanzausgleich mit den Bundesländern verhandelt werden müssten und deshalb "alles anderes als fix" seien. Außerdem sei die Summe zu gering und ein Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz erst 2030 zu spät. Wie von den Sozialpartnern gefordert, brauche es vielmehr eine Milliarde Euro mehr pro Jahr, eine Ausbildungsoffensive und faire und gute Arbeitsbedingungen.

Barbara Teiber
"Kinderbetreuung ist kein Thema für Marketingschmähs", sagt Barbara Teiber, die Vorsitzende der Angestelltengewerkschaft (GPA).
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Auch von den Gewerkschaften kamen kritische Töne. Die Vizepräsidentin und -Bundesfrauenvorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, Korinna Schumann, sah Nehammers Ankündigung als Erfolg des Drucks der Gewerkschaft, gleichzeitig habe man aber erst kürzlich feststellen müssen: "Wenn die Bundesregierung mit Bundeskanzler Karl Nehammer etwas Großes ankündigt, dann ist Vorsicht geboten – es könnte sich schnell als Leuchtfeuer entpuppen."

"Kinderbetreuung ist kein Thema für Marketingschmähs", betonte auch Barbara Teiber, die Vorsitzende der Angestelltengewerkschaft (GPA). Sie forderte von Nehammer Tempo. Auf längere Sicht würden 4,5 Milliarden Euro zudem nicht reichen. Younion-Vizechef Manfred Obermüller befürchtete ebenfalls "das Einschlagen eines PR-Nagels ohne Kopf". Immerhin sei schon 2022 eine "Kindergartenmilliarde" versprochen worden, die tatsächlich nur 57,5 Millionen Euro mehr pro Jahr bedeutet habe. Dass es bei gleichgebliebenen Daten ein Jahr später nun deutlich mehr Geld geben soll, erinnere an Wahlkampf.

Auch für Natascha Taslimi vom Netzwerk Elementarer Bildung Österreichs (Nebö) ist "Skepsis angebracht". Der Bund habe zwar offensichtlich erkannt, dass im Kindergartenbereich schnell etwas getan werden muss. Die angekündigten 4,5 Milliarden auf sieben Jahre für alle neun Bundesländer seien allerdings wohl weiter zu wenig.

Grüne und Gemeindebund begrüßen Vorstoß

Erfreut zeigte sich unterdessen Grünen-Generalsekretärin Olga Voglauer, für die mit dem Ausbau der Kinderbetreuung ab dem ersten Lebensjahr eine langjährige Grünen-Forderung angegangen wird. Damit werde eine gute Rückkehr von Eltern ins Berufsleben und eine partnerschaftliche, gerechte Aufteilung von bezahlter Erwerbs- und unbezahlter Elternarbeit ermöglicht, hieß es in einer Aussendung.

Begrüßt wurde der Vorstoß auch vom Gemeindebund. Man habe bei den Finanzausgleichsverhandlungen monatelang mehr Geld für Kinderbetreuung gefordert, man stehe für weitere Verhandlungen mit Bund und Ländern bereit, sagten Vizepräsidenten Andrea Kaufmann und Erwin Dirnberger. Klar sei, dass es neben mehr Geld für die Infrastruktur auch eine dauerhafte Finanzierung des Personals durch den Bund brauche.

Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung (IV), sah in der Initiative nicht nur eine wichtige Investition in Bildung, sondern auch gegen den Fachkräftemangel, indem Eltern einen rascher Wiedereinstieg in den Beruf ermöglicht werde. Das Geld müsse nun vor allem in den Ausbau der Plätze und ausgeweitete Öffnungszeiten fließen, außerdem brauche es bundesweit einheitliche Qualitätsstandards für Gruppengröße und Betreuungsschlüssel. Um ausreichend Personal zu finden, fordert die IV mehr Ausbildungsplätze und unterschiedliche Ausbildungsformen sowie flankierende Maßnahmen, um das Personal nachhaltiger im Beruf zu halten.

Die Regierung habe offenbar die Zeichen der Zeit erkannt, Geld für den Elementarbereich sei die "bestmögliche Investition in unsere Zukunft", hieß es von der Wirtschaftskammer. Präsident Harald Mahrer pochte neben einem Ausbau aber auch auf mehr Qualität. Auch Handelsverband und Wirtschaftsbund sahen einen Schritt, um gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels wichtige Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern.

Ein "wichtiges Signal für mehr Familienfreundlichkeit" sah der Katholische Familienverband, der betonte, dass nicht nur in die Quantität, sondern auch in die Qualität investiert werden müsse. Dafür brauche es ein bundeseinheitliches Rahmengesetz, derzeit geben die Länder die Mindeststandards vor. (APA, red, 5.9.2023)