Gemälde der der Türkenbelagerung vor Wien
1683, die Türken belagern die österreichische Hauptstadt. Osmanische Geschichte wird erst langsam als Teil der europäischen – und der Globalgeschichte – wahrgenommen.
Foto: Toni Schneiders / Interfoto / pi

Das Gespräch mit Yavuz Köse, Professor für Turkologie am Institut für Orientalistik der Universität Wien, spannt einen breiten Bogen über Themen, die weit auseinanderliegen und alle zu seinem Fach gehören: von philologischen über historische bis zu sozialen. Noch viel mehr jedoch deckt der "Turkologentag" ab, den Köse mit seinem Team vom 21. bis 23. September an der Universität Wien ausrichtet. Der in Bayern geborene deutsche Turkologe, der 2019 von der Universität Hamburg nach Wien gekommen ist, ist Vorstandsvorsitzender der GTOT, der Gesellschaft für Turkologie, Osmanistik und Türkeiforschung. Sie vergibt die Veranstaltung, Köse hat sie nach Wien gebracht. Und sie wird die bisher größte ihrer Art sein, in Europa und darüber hinaus.

Das bedeutet circa 800 Teilnehmer und Teilnehmerinnen aus mindestens 50 Staaten – es wurden Reisestipendien in Höhe von über 11.000 Euro vergeben –, und mehr als 200 Panels mit je mehreren Vorträgen, die 20 Themenclustern zuzuordnen sind. Mit dabei ist auch die DAVO, die Deutsche Arbeitsgemeinschaft Vorderer Orient, die das Themenspektrum über die Turkologie hinaus erweitert. An sich sollte der Turkologentag alle zwei Jahre stattfinden, aber Mainz 2020 fiel wie so vieles Covid zum Opfer.

Fokus Osmanisches Reich

Die GTOT wurde 2011 gegründet, sie widmet sich "der Förderung der turkologischen Forschung in ihrer gesamten Breite von Nordostsibirien mit Jakutisch bis nach Westberlin, Stichwort Migrationsforschung", beschreibt Köse (siehe Infobox am Ende des Artikels). Geografisch, aber auch disziplinär ein weiter Weg. Es geht also nicht nur um "Türkeiforschung" betont er, wenngleich an den deutschsprachigen Universitäten der Fokus vor allem auf dem Osmanischen Reich und der nachfolgenden türkischen Republik liegt. In Wien umfasst die Turkologie seit 2020 jedoch immerhin auch eine Professur für zentralasiatische Sprachen und Literaturen. Woanders im deutschsprachigen Raum sind die Zentralasienstudien eher auf dem Rückzug.

Das Jahr 2023 bietet sich für einen großen Turkologentag geradezu an: Am 29. Oktober 1923, vor hundert Jahren, wurde die Republik Türkei ausgerufen. Und an der Universität Wien begeht man hundert Jahre Fach Turkologie. Friedrich Kraelitz-Greifenhorst, der erste Turkologieprofessor am Institut für Orientalistik, wurde im Wintersemester 1922/23 berufen. Er war allerdings nicht nur eine zentrale Figur für die Entwicklung der Wiener Osmanistik, sondern auch Mitglied der "Bärenhöhle", eines antisemitischen Netzwerks an der Uni, das es als seine Mission ansah, das Fortkommen jüdischer Forscher und Forscherinnen zu verhindern.

100 Jahre Türkische Republik

Aber zurück zum Turkologentag: Die Keynote wird Edhem Eldem halten, einer der führenden Turkologen mit dem Schwerpunkt spätosmanisches Reich, er wird die hundert Jahre Fachgeschichte reflektieren. Welche Themen am stärksten vertreten sind? Die meisten Panels, so Köse, versammelt wohl die Osmanistik, aber auch die Türkeiforschung von der Gründung der Republik bis zur Gegenwart ist stark. Und zwar in ihrer disziplinären Auffächerung, neben Geschichte, Philologie, und Literatur kommen auch politikwissenschaftliche und soziologische Perspektiven nicht zu kurz. Das Thema Minderheiten sei ihm ein Anliegen, erzählt der 52-jährige Professor, auch bei seiner Lehrtätigkeit. Positiv überrascht war Köse von der starken Präsenz der Women and Gender Studies, in großer geografischer und zeitlicher Bandbreite.

Yavuz Köse, von Bayern über Hamburg nach Wien
Foto: Standard/Friesenbichler

Man arbeite sich also nicht nur an den letzten zwanzig Jahren Türkei ab: ein Vorwurf, der den Turkologentagen manchmal gemacht wurde. Dass es tatsächlich eine Lücke in der zeitgeschichtlichen Forschung über die Türkei zwischen 1950 und 2000 gibt, bestätigt Köse mit Verweis auf einen kürzlich erschienenen Beitrag von Berna Pekesen. Dazu habe auch die Situation in der Türkei selbst beigetragen: Geschichte war immer Teil des staatlichen Auftrags, der Staatsräson, ein wesentlicher Teil des "Nation Buildung". Und außerhalb der Türkei hätten viel mehr Sozial- und Politikwissenschafter zur Türkei geforscht als Historiker.

Vielfalt der Quellen

Es ist symptomatisch, dass es derzeit im deutschsprachigen Raum nur eine Universität gibt – Bochum –, wo die Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei im historischen Institut angesiedelt ist. Heute gewinnt indes die Osmanistik als Teil europäischer Geschichte – und der Globalgeschichte – zunehmend an Bedeutung. Die Relevanz wird in Österreich, dem Nachfolger des Habsburgerreichs, niemand bestreiten.

Die Forschung öffnet sich und wird interdisziplinärer, meint Köse: "Südosteuropäische Geschichte ist zu einem großen Teil auch osmanische Geschichte. Früher haben Südosteuropa-Historiker selten osmanische Quellen herangezogen – und umgekehrt", das habe sich geändert. In der Osmanistik und Türkeiforschung stand Türkisch als Quellensprache immer im Vordergrund, und das nicht nur in der Türkei. Erst in den letzten Jahren wird es üblicher, dass sich Turkologen auch Griechisch, Armenisch, Serbokroatisch oder Bulgarisch und Rumänisch aneignen.

In der Türkei hat die politische Dominanz über die Universitätslandschaft zur Tabuisierung einiger Themen geführt – wie des armenischen Genozids oder der Forschung zu Kurden und Kurdinnen. Das sind Stichwörter zu einer schwierigen Geschichte, die sich auch in der Sicht auf Sprache und Literatur niederschlug: etwa im Streit um "Türk Edebiyatı" oder "Türkçe Edebiyat".

Nicht in den Kanon aufgenommen

Beides ist türkische Literatur, Ersteres Literatur von Türken, Letzteres Literatur auf Türkisch, türkische Literatur von Nichttürken. Ist es als Teil türkischer Literaturgeschichte zu betrachten oder nicht? Für Außenstehende eigentlich keine Frage, aber die auf Türkisch verfassten Werke von Griechinnen und Griechen, Juden, Jüdinnen, Armeniern und Armenierinnen wurden nicht in den Kanon türkischer Literaturgeschichte aufgenommen, "weil es im Rahmen nationalgeschichtlicher Abgrenzung eine homogene türkische Literaturgeschichte geben soll", erklärt Köse.

Auch das ändert sich, wenn auch nur stellenweise. Umso wichtiger ist es, dass diejenigen türkischen Universitäten unterstützt werden, die um ihre politische und wissenschaftliche Unabhängigkeit kämpfen, trägt Yavuz Köse mit Verve vor. Auch der Turkologentag reflektiert diese Einstellung, zahlreiche Panels befassen sich mit kritischen Themen. (Gudrun Harrer, 17.9.2023)