Proteste unter dem Motto "Frau, Leben, Freiheit" gab es nach dem Tod von Mahsa Jina Amini auch über die iranischen Landesgrenzen hinaus, hier etwa in Frankreichs Hauptstadt Paris im Mai.
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Vor einem Jahr starb Mahsa Jina Amini, nachdem sie von Irans Sittenpolizei wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung verhaftet worden war. Ihr Tod hat landesweit zu Protesten geführt und Menschen über die verschiedensten Teile der Bevölkerung zu einer Bewegung vereint. Auf den Straßen im Land ist es ruhiger geworden, doch für den heutigen Todestag Aminis werden wieder Proteste erwartet. Und Widerstand bleibt auch abseits von Demonstrationen im Alltag sichtbar. Vier Menschen aus dem Iran erzählen in Protokollen – aus Sicherheitsgründen anonym – wie sie das vergangene Jahr erlebt haben sowie von ihren Ängsten und Hoffnungen für die Zukunft.

32-Jährige in Teheran: Widerstand ist jeden Tag sichtbar

Ein Jahr voller Widersprüche – so würde ich die vergangenen zwölf Monate beschreiben. Es war für mich geprägt von Angst, Aufregung, Liebe, Hoffnung und Enttäuschung. Manchmal fühlte ich Liebe zur iranischen Bevölkerung, manchmal habe ich sie gehasst. Manchmal war ich so glücklich, manchmal konnte ich nicht schlafen, weil ich solche Angst hatte, verhaftet zu werden. Ich war von Beginn an bis heute bei den Protesten aktiv, wurde verhört und von Einsatzkräften auf der Straße verletzt. Meinen Job als Programmiererin habe ich verloren, weil ich kein Kopftuch getragen habe.

Widerstand ist weiterhin jeden Tag sichtbar: in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf der Straße, zu Hause. Es finden enorme gesellschaftliche Veränderungen statt. Ich kann nicht sagen, dass es eine Revolution war. Aber viele waren auf der Suche nach persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit auf der Straße und wurden getötet. Der Streit um das Kopftuch wird von Tag zu Tag heftiger, eines Tages wird er beendet sein.

Die stille Art der Unterdrückung, also die individuellen und willkürlichen Probleme für Frauen, ist in meinen Augen beängstigender. Es ist schwieriger, dagegen anzukämpfen. Ich hoffe, dass künftig das Bewusstsein für Klassenverhältnisse zunehmen wird. Unterdrücker schließen sich zusammen. Aber wir werden gegen alle Formen der Unterdrückung kämpfen.

Video: Der Protest der Frauen geht trotz modernster Überwachungstechnik in stiller Art weiter
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46-Jähriger in Mashhad: Ein Funke wird das Feuer neu entzünden

Ich arbeite im Justizbereich und lebe in Mashhad, einer sehr religiösen Stadt. Die Kontrollen durch die Sittenpolizei sind sehr streng, aber auch hier gab es viele Proteste. Es hat einige Monate gedauert, bevor sie auch hier brutal niedergeschlagen wurden. Seitdem ist es zwar nicht mehr so, dass man auf die Straße geht und jeden Tag Parolen ruft, aber es gibt unsichtbaren Protest.

Vor dem Tod von Mahsa Amini war die Situation irgendwie hoffnungslos, man hat das Leben als nicht so wertvoll empfunden. Jetzt liegt etwas in der Luft. Viele Frauen gehen bewusst ohne Kopftuch auf die Straße. Und wenn etwa im Bus ein Sittenwächter eine Frau ohne Kopftuch maßregelt, merkt man, dass es unter den Fahrgästen viele gibt, die sich mit ihr solidarisieren. Man spürt eine gewisse Solidarität in der Gesellschaft. Und man spürt, dass die Menschen hier nichts mehr zu verlieren haben.

Frauen mit lockerem Kopftuch in Teheran
Viele Frauen im Iran tragen ihr Kopftuch nur mehr locker, hier zu sehen im Zentrum der Hauptstadt Teheran vergangene Woche.
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Ein Jahr nach Aminis Tod haben wir viel verloren, aber auch viel gewonnen. Eine Errungenschaft für mich ist, dass mein Sohn mit dem Bewusstsein aufwächst, dass man die Regierung kritisch hinterfragen muss. Zu Schulbeginn malte er ein Bild: In einem Auto waren Sittenwächter, neben ihnen ein Mädchen mit blutigem Kopf. Er sagte: Das ist Mahsa. In den Köpfen der Kinder ist jetzt, dass die Mullahs und das Regime abstoßend sind.

Ich wünsche mir Frieden und Freiheit für den Iran. Mit der jetzigen Regierung erreichen wir das nicht. Um sie zu stürzen, müssten Staaten aufhören, wirtschaftliche und politische Beziehungen mit dem Iran zu pflegen – denn dies signalisiert dem Regime, dass es keine Konsequenzen für sein Vorgehen gegen die Bevölkerung gibt.

Und es bräuchte eine neue Welle des Protests durch die Bevölkerung. Am Jahrestag von Aminis Tod werde ich zu 100 Prozent wieder auf der Straße sein. Es braucht nur einen Funken, der das Feuer wieder neu entzündet, und das wird dieser Funke sein. Es wird wieder auf beiden Seiten Tote geben, ich selbst wurde schon bei Protesten verletzt.

Ich wurde oft gefragt, ob ich nicht ins Ausland will. Aber ich möchte bleiben und mein Land aufbauen. Ich habe nur ein Leben, aber mein Sohn ist der Grund, warum ich auf die Straße gehe. Allen in Europa sage ich: Lasst die Menschen im Iran nicht allein. Unterstützt nicht Irans Regierung, sondern die Menschen auf der Straße.

24-Jährige in Teheran: Alle schimpfen über die Regierung

Bei der hohen Arbeitslosigkeit im Land bin ich froh über meine derzeitige Tätigkeit in einem Bekleidungsgeschäft. Ich habe Wirtschaftswissenschaften an der Azad-Universität in Teheran studiert, und trotzdem hatte ich keine Möglichkeit, einen passenden Job zu finden. Im Geschäft berate ich hauptsächlich Frauen und werde ständig mit der Frage konfrontiert, ob diese Arbeit nicht unter meinem Niveau wäre. Das ärgert mich, aber was soll ich sonst machen?

Als ich mit 18 nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung mit dem Studium angefangen habe, hatte ich noch ganz andere Vorstellungen von meiner Zukunft. Wir sind eine verlorene Generation, das wird mir immer bewusster.

Mahsa Amini Graffiti
Der Name Mahsa Amini bleibt in den Straßen Teherans präsent.
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Auf Diskussionen im Geschäft verzichte ich lieber und beschränke mich aufs Zuhören. Fast alle Leute, die bei uns einkaufen, schimpfen über die Regierung, das System und steigende Preise. Im Geschäft müssen wir immer wieder wegen der Kontrollen zur Einhaltung der islamischen Bekleidungsordnung achtgeben. Mehrere Geschäfte und Kaufhäuser wurden deswegen schon verwarnt oder sogar zwangsgeschlossen. Bei uns im Geschäft tragen wir keine Kopftücher, aber ein Schal ist immer in greifbarer Nähe.

Wir gehen oft auf den großen Bazar in Teheran einkaufen, und es fällt auf, dass in vielen Geschäften Frauen arbeiten. Früher waren kaum Frauen auf dem Bazar.

Obwohl es Internet-Einschränkungen gibt, wissen die Leute, wie man diese Barrieren überwinden kann. Was Nachrichten betrifft, informieren sich die meisten über Farsi-Sendungen im Ausland. Ich merke auch bei unseren Kundinnen und Kunden, dass sie bestens über die Ereignisse im Iran und in der Welt informiert sind.

Mein Vater war Beamter und ist seit vier Jahren in Pension. Aber die reicht nicht aus, deshalb sucht er ständig nach Arbeit. Meine Mutter ist Lehrerin und gibt nebenbei Privatunterricht. Was aus mir wird, steht in den Sternen, eines weiß ich aber mit Sicherheit: So wie es bisher im Iran war, kann es nicht mehr lange weitergehen. Wir träumen von einer neuen Zukunft in einer freien Gesellschaft, ohne den Zwang, nach der Pfeife der Machthaber zu tanzen.

25-Jährige in Teheran: Leben in zwei Parallelgesellschaften

An der University of Art in Teheran, wo ich Kunst und Musik studiere, sind wir Frauen in der Überzahl. Hier habe ich als Frau noch nie Probleme gehabt. Sobald ich das Universitätsgelände verlasse, ist es anders.

Im Norden Teherans, wo ich wohne, sehe ich überall geschminkte Frauen, entweder ohne Kopfbedeckung oder nur mit einem kaum erkennbaren Tuch am Hals. Im Zentrum Teherans tragen viele Frauen kein Kopftuch, achten aber gut darauf, dass sie nicht von einer der in Schwarz gekleideten Frauen angesprochen werden.

Zwei Frauen in Teheran ohne Kopftuch, eine mit
Viele Frauen im Iran, hier in Teheran, gehen bewusst ohne Kopftuch auf die Straße, andere halten sich an die Kleidungsvorschriften.
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Diese sogenannten "Hüterinnen des Hijab" sind normalerweise zu zweit oder dritt, manchmal stehen sie auch an U-Bahn-Eingängen. Wenn sie eine Frau sehen, die ihr Kopftuch nicht nach ihren Vorstellungen trägt, beginnen sie, über den Islam zu sprechen und darüber, wie man sich in einem islamischen Land vor "fremden Blicken" zu schützen hat. Die meisten Menschen auf der Straße nehmen sie jedoch nicht ernst. Abgesehen von diesen zufälligen Begegnungen auf der Straße fühle ich mich als Frau nirgendwo diskriminiert.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir im Iran in zwei Parallelgesellschaften leben. Die eine Seite lebt strenge islamische Vorschriften, die andere Seite hat ihren eigenen Weg gewählt und hat für islamische Anordnungen nur Spott übrig. (Viktoria Kirner, Noura Maan, N.N. aus Teheran, 16.9.2023)