Mit einigem Zweckoptimismus wird oft gesagt, man müsse eine Krise als Chance begreifen. Tatsächlich bieten Krisen natürlich Gelegenheit, zu wachsen und sich zu verbessern. So hat auch die Covid-Pandemie Chancen eröffnet: Beispielsweise hätten wir ohne sie noch Jahre auf den elektronischen Impfpass gewartet, und Telekonsultationen und E-Rezept werden heute wie selbstverständlich weitergenutzt. In Hinblick auf erneute Pandemien haben die Behörden einiges gelernt, die Grenzen bisheriger Systeme erkannt und ihre Erneuerung eingeleitet. Der Telearbeit verlieh die Pandemie einen massiven Schub. Dennoch verwundert es, dass wir wie in den Pandemiejahren 2020, 2021 und 2022 schon wieder weitgehend unvorbereitet in den Herbst gehen.

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Braucht es bald wieder die Maske?
Foto: EMS-FORSTER-PRODUCTIONS

Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus unserem EU-Projekt Persicope zur Resilienz von Gesundheitssystemen gegen Pandemien lautet: Wir sind in Hinblick auf Infektionskrankheiten zu gleichgültig geworden. Jeden Winter sitzen in Arztpraxen Herzkranke neben Hustenden, Immunschwache neben Fiebernden. Eltern richten sich darauf ein, Tage oder gar eine Woche bei den kranken Kindern zu verbringen, wiederholt und eigene Ansteckung inklusive. Kritische Infrastrukturen und auch andere Betriebe rechnen schon mit der Ausdünnung der Belegschaft während dieser Zeit. Die Tatsache, dass nur noch wenige Menschen an Infektionen sterben, hat uns in dieser Hinsicht allzu blind werden lassen. Denn die Pandemie hat auch gezeigt, wie gut man Infektionen durch Prävention verhindern kann. Für den Winter 2020/21 kann man beispielsweise die Influenzafälle an einer Hand abzählen: Masken und Abstand.

Man könnte jetzt meinen, nicht so schlimm, es war früher auch so. Aber zum einen zeugt diese Haltung von einer gewissen Lernresistenz und Trägheit. Als die erste Blockhütte der Menschheit abgebrannt ist, sind wir auch nicht in die Höhlen zurückgekehrt. Zum Zweiten ist es leider auch naiv und falsch, Sars-CoV-2 auf die leichte Schulter zu nehmen. Covid ist nicht wie ein Schnupfen oder ein grippaler Infekt, es ist eine Systemerkrankung, die Gefäße und Nerven befällt, und selbst im Vergleich zu Influenza (echter Grippe) deutlich mehr gesundheitliche Folgen hinterlässt, bis hin zum gefürchteten Post-Covid-Syndrom. Dabei steigt das Gesamtrisiko mit jeder weiteren Infektion.

Nicht existent

Selbst ohne diese Fehldeutung von Covid als einfacher respiratorischer Infekt stellt es eine zusätzliche Belastung für unsere Gesundheit, das Gesundheitswesen und die Gesellschaft dar, denn nun ist neben häufigen Erregern wie Rhinovirus, RSV und Influenza ein weiterer Erreger im Spiel, der durch seine erstaunliche Wandlungsfähigkeit das Potenzial hat, jedes Jahr aufs Neue viele Menschen anzustecken.

Was setzen wir dem entgegen? Offenbar sehr wenig. Wir wissen, dass viele Atemwegsinfekte durch die Erhöhung der Luftqualität verhindert werden können. Aber für Schulen und Kindergärten existieren nach wie vor kaum Lüftungskonzepte mit Kohlendioxidsensoren, Luftfiltern oder besseren Lüftungsanlagen. Informationskampagnen zur Hygiene und Anwendung von Masken in aerosolangereicherten Situationen sind inexistent. Die "Eigenverantwortung" scheint sich somit nicht mehr nur auf die Anwendung der Maßnahmen, sondern schon auf die Informationsbeschaffung zu erstrecken.

Wir wissen, dass eine rezente Impfung die Übertragbarkeit von Covid-19 deutlich reduziert und auch die Wahrscheinlichkeit von Long Covid verringert. Impfzentren wurden jedoch weitgehend heruntergefahren, denn die Meldepflicht der Krankheit wurde aufgehoben. Impfkampagnen muss man mit der Lupe suchen. Somit ist davon auszugehen, dass die Covid-Impfung das Schicksal der Influenzaimpfung erleiden wird. Es gibt mittlerweile sogar eine Impfung gegen RSV, die wiederum viele Infektionsfälle verhindern könnte, insbesondere auch von Eltern auf den Säugling – absehbar ein Nischenprogramm.

Unglückliche Fehlgriffe

Wie ist diese starke Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln in der öffentlichen Gesundheit zu erklären? Österreich war schon traditionell im Bereich Public Health inklusive Gesundheitsbildung schwach. Auch hier sind die Kompetenzen zersplittert. Aber man hätte – die Krise als Chance – lernen können. Ein Erklärungsansatz reicht in die Pandemie zurück: Der Lockdown für die Ungeimpften und die Einführung der allgemeinen Impfpflicht haben zu einer starken Polarisierung geführt und den Bemühungen der Pandemiebekämpfung stark in ihrer Popularität geschadet.

Seither, scheint es, traut man sich politisch kaum an das Thema Covid-19 heran. Das Dashboard wurde eingestellt, die Pandemie für beendet erklärt und die Long-Covid-Ambulanzen geschlossen. Diese beiden unglücklichen Fehlgriffe in der Pandemiebekämpfung haben somit das Lernen aus der Pandemie auf politischer Ebene verunmöglicht, die Chancen, die die Krise geboten hätte, werden vertan. Wir kehren offenbar wieder in die "blissful ignorance" zurück, die wir vor der Pandemie hatten: Infektionskrankheiten als eine Sache früherer Jahrhunderte.

Dieser Zustand muss überwunden werden. Denn öffentliche Gesundheit, Gesundheitswesen, Wirtschaft und Gesellschaft leiden ungeachtet dessen, ob man auf einem Dashboard die Fallzahlen täglich verfolgen kann oder nicht. (Thomas Czypionka, 19.9.2023)