An einem Samstag im August fahre ich mit meinem Wanderrucksack an den Stadtrand von Wien. Der Bus leert sich, übrig bleiben andere, ebenso mit Rucksack und Zelt bepackt. "Auch zum Tramprennen?" Ja, wir wollen alle zum selben Ort und sind sofort neugierig aufeinander. Schnell lernen wir, wie die anderen heißen, woher sie kommen und was sie zum Tramprennen führt. Insgesamt versammeln sich hier etwa 60 Leute zwischen 20 und 40 Jahre alt auf einem Wagenplatz, um in den letzten beiden Augustwochen von Wien bis nach Nea Karvali im Nordosten Griechenlands zu trampen.

Beim Tramprennen wird, ähnlich wie bei einem Spendenlauf, für den guten Zweck gesammelt.
Beim Tramprennen wird, ähnlich wie bei einem Spendenlauf, für den guten Zweck gesammelt.
tramprennen.org

Autostoppen ist nicht mehr in Mode. Während es als Teil der Hippiekultur in Europa bis in die 1970er- und 80er-Jahre beliebt war, werde ich dieser Tage beim Trampen oft gefragt, warum ich nicht Mitfahrgelegenheiten übers Internet nutze. Im Alter von 20 habe ich mit dem Autostoppen angefangen; seitdem bin ich durch Deutschland, Österreich und die Schweiz nach Kroatien und von Istanbul zurück nach Westeuropa getrampt. Durch Corona-Pandemie und Arbeitsleben ist es weniger geworden. Aber heuer mache ich die erste Etappe des Tramprennens bis nach Szeged in Ungarn mit – und merke wieder, was ich an dieser Reiseform so mag.

Werben fürs Trampen

Als die Dämmerung anbricht, setzen sich alle ins Gras. Zwei von dem zehnköpfigen Organisationsteam sitzen an einem Tisch mit Laptop und erzählen von der Geschichte des Tramprennens und seinen Regeln. Einer von ihnen ist Nico Holtkamp, ein 30-Jähriger mit Lockenkopf aus Berlin. "Ziel des Tramprennens ist es wie bei einem Spendenlauf, für den guten Zweck zu sammeln und für das Fahren per Anhalter zu werben", erklärt Holtkamp. Aber warum werben? Per Anhalter mitzufahren sei, solange es sowieso Autoverkehr geben muss, eine klimafreundliche Art zu reisen und fördere den Kontakt mit Leuten und kulturelle Verständigung. "Das klingt vielleicht etwas hippiemäßig", fügt er hinzu. Er ist in diesem Jahr schon von Kasachstan bis nach Wien per Anhalter gefahren. "In Ländern, in denen viel getrampt wird, ist es einfacher." Dort sind die Leute an Trampende gewöhnt und bleiben eher stehen.

Per Anhalter mitzufahren sei, solange es sowieso Autoverkehr geben muss, eine klimafreundliche Art zu reisen und fördere den Kontakt mit Leuten und kulturelle Verständigung.
Per Anhalter mitzufahren sei, solange es sowieso Autoverkehr geben muss, eine klimafreundliche Art zu reisen und fördere den Kontakt mit Leuten und kulturelle Verständigung.
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Nach der Einführung stellen sich die Teams vor. Getrampt wird in Zweier- oder Dreierteams; es sind Leute aus Österreich, USA, Großbritannien, Russland, Schweden, der Ukraine und Spanien dabei, der Großteil kommt aus Deutschland, wo das Rennen ins Leben gerufen wurde. Die Regeln sind einfach: Am Morgen einer Etappe starten alle am selben Ort zu einer festgelegten Uhrzeit. Unterwegs dürfen keine kostenpflichtigen Fahrten angenommen werden, die Teams müssen zusammenbleiben. Das Ziel jeder Etappe ist für alle dasselbe, nach dem Eintreffen wird ein Foto mit Uhrzeit gemacht.

Am Abend schmieden manche Teams schon Strategiepläne für die erste Etappe nach Ungarn. Andere spielen lieber Tischfußball, trinken und tauschen Reisegeschichten aus. Großer Konkurrenzdruck herrscht nicht.

Mitfahrgelegenheiten

Sonntag, 10 Uhr: Es geht los. Mein Team für diesen Tag sind die 28-jährige Studentin Antonina aus Heidelberg und ein 38-jähriger Schwede, der seit über 15 Jahren durch die Welt reist und anonym bleiben will. Zuerst brauchen wir den besten Startort. Hilfreich ist dabei Hitchwiki, eine Seite, auf der sich Trampende austauschen und die besten Orte für Anhalter posten. Am besten ist es, aktiv Autofahrerinnen und -fahrer anzusprechen, um sicher und freundlich zu wirken. Dafür sind Raststätten und Tankstellen an der Autobahn die besten Orte. Doch die sind ohne Auto schwer zu erreichen. Wir gehen durch ein Gewerbegebiet, auf einem Schleichweg zwischen Autobahn und Fabrik, vorbei an einem Mistplatz und einem verwachsenen Gewächshaus.

12:45 Uhr: Wir stehen an einer Tankstelle, die nicht im Hitchwiki empfohlen wird, um der Konkurrenz zu entgehen. Die ist leider sehr unbelebt. Also müssen wohl Pappendeckel und Daumen herhalten. Doch wir stehen noch nicht einmal an der auserkorenen Stelle, da hält schon ein Transporter an. Der 32-jährige Österreicher Jerry kommt gerade vom Flohmarkt in Wien. Er will sein Hab und Gut verkaufen, den Wagen ausbauen und damit auf Reisen gehen. Allerdings kann er uns nur ein kleines Stück mitnehmen. Im Auto beraten wir über die beste Stelle für weitere Lifts – so nennen Trampende eine Mitfahrgelegenheit – und entscheiden uns für eine große Raststation mit Tankstelle in Göttlesbrunn 30 Kilometer hinter Wien.

Am besten ist es, aktiv Autofahrerinnen und -fahrer anzusprechen, um sicher und freundlich zu wirken. Dafür sind Raststätten und Tankstellen an der Autobahn die besten Orte. Sonst bleiben immer noch Daumen und Pappendeckel.
Am besten ist es, aktiv Autofahrerinnen und -fahrer anzusprechen, um sicher und freundlich zu wirken. Dafür sind Raststätten und Tankstellen an der Autobahn die besten Orte. Sonst bleiben immer noch Daumen und Pappendeckel.
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13:20 Uhr: Dort angekommen, treffen wir auf andere Teams. Seit 40 Minuten stünden sie schon hier, erzählt einer. Wir schaffen es schneller weg, denke ich – jetzt noch. Viele Autos stehen Schlange vor den Tanksäulen, und der Rastplatz ist gefüllt. Wir laufen zu Autos, zu Leuten auf dem Weg zur Kasse und zu Wartenden auf dem Rastplatz und fragen, ob jemand drei freundliche Trampende mitnehmen würde.

Die Raststätte stellt sich als trügerischer Ort heraus: Sie dient beiden Fahrtrichtungen, und fast alle, die ich anspreche, kommen aus Ungarn, Rumänien oder der Türkei, sind aber nach Deutschland und Österreich unterwegs. Geduld gehört beim Trampen dazu. Und immer wieder Leute anzusprechen. Ich lerne einiges über Zurückweisung. Die meisten sind trotz einer Absage freundlich, sie führen nur in die falsche Richtung oder hätten keinen Platz mehr frei und wünschten viel Erfolg.

Vorurteile

14:20 Uhr: Das erste Team hat einen Lift und verlässt die Raststätte. Für uns ist es beruhigend zu sehen, dass man von hier wegkommt. Nach anderthalb Stunden an der Raststätte drücken Hitze, Müdigkeit und die vergebliche Fragerei die Stimmung. Aber beim Trampen zählt der gute Eindruck, und wer nimmt schon gerne schlecht gelaunte Leute mit?

15:40 Uhr: Ein Teilnehmer des Rennens sucht das Frauenteam, das auch an der Raststätte wartet. Er habe eine Frau angesprochen, die allein mit Sohn unterwegs sei und lieber keinen Mann mitnehmen wolle. Aber zwei junge Frauen, das könne sie sich vorstellen.

Beim Trampen zählt der gute Eindruck, und wer nimmt schon gerne schlecht gelaunte Leute mit?
Beim Trampen zählt der gute Eindruck, und wer nimmt schon gerne schlecht gelaunte Leute mit?
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In diesem Jahr nehmen zum ersten Mal reine Frauenteams am Rennen teil. Zuvor lautete eine der wenigen Regeln, dass nur gemischtgeschlechtliche Teams antreten dürfen, weil es zu gefährlich sei, zwei Frauen allein auf Trampreise zu schicken. Aber das jetzige Organisationsteam hat die Regel abgeschafft. Sie sei bevormundend.

Das Organisationsteam positioniert sich gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie – es sind die einzigen Gründe, sofort vom Rennen ausgeschlossen zu werden. Auf der Straße bleibt es aber bei der Ungleichbehandlung. "Rassismus und Sexismus gibt es beim Trampen wie überall in der Gesellschaft", sagt Holtkamp. Er erzählt, dass manchmal Teilnehmende berichten, was für rassistischen Müll sie sich auf der Fahrt anhören mussten. Doch er selbst habe auch schon erlebt, dass Fahrer nach einem offenen Gespräch über Muslime Vorurteile überdacht hätten.

Gutes Karma

Es ist auffällig, dass am Tramprennen in diesem Jahr nur weiß gelesene Leute teilnehmen. Ich selbst bin auch weiß und als Frau nur einmal zusammen mit zwei anderen Frauen getrampt. Dabei habe ich so unangenehme Erfahrungen gemacht, dass ich beschlossen habe, es nie wieder zu tun.

Leah aus einem der drei Frauenteams im Rennen freut es aber, dass die Geschlechterregel aufgelöst wurde. Die 27-Jährige ist schon mit Freundinnen kurze Strecken im Urlaub getrampt und tritt mit einer Freundin an. Obwohl sie auch schon eine unangenehme Erfahrung gemacht hat, fühlt sie sich zusammen mit einer guten Freundin sicherer als mit einem fremden Mann im Team. Sie würden viel von Frauen, Familien und Paaren mitgenommen, erzählt sie.

Seit heuer können beim Tramprennen auch reine Frauenteams mitmachen.
Seit heuer können beim Tramprennen auch reine Frauenteams mitmachen.
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Jetzt bleiben nur noch zwei Teams an der Raststätte, aber es kommen auch weniger Autos. Die anderen hoffen auf gutes Karma. Beim Trampen fange auch ich irgendwann an, daran zu glauben, wenn so viel vom Zufall abhängt. Und tatsächlich wird auch das andere Team kurz darauf mitgenommen.

15:50 Uhr: Wir bleiben als Letzte zurück. Langsam frage ich mich, was wir machen, wenn wir heute nicht am Etappenziel ankommen. Eine Viertelstunde später höre ich meinen Teampartner sagen: "Nein, das geht sich wahrscheinlich nicht aus." Ich bin aber zuversichtlich, schließlich wurde ich schon in vollgepackteren Autos mitgenommen! "Doch, wird schon passen", sage ich und hole schnell Antonina dazu.

Horizont erweitern

16:20 Uhr: Mit dem Wanderrucksack auf dem Schoß verlassen wir die Raststätte in Richtung Osten. Unser Fahrer stellt sich als Costi vor. Er kommt aus Rumänien und lebt seit 2011 in Süddeutschland. Am Morgen ist er von dort losgefahren und will noch am Abend bei seiner Familie ankommen. Wir unterhalten uns über Reisen, Sprachen, Klimawandel und unser Leben. Costi hört uns gerne zu und stellt Fragen zu unseren Reisen.

Costi erzählt, dass er früher selbst trampen musste, wenn er den Dorfbus verpasst hat und ein paar Stunden auf den nächsten hätte warten müssen. Ihm war das eher unangenehm, und er kann sich nicht vorstellen, selbst aus Spaß noch einmal per Autostopp zu reisen.

Platz ist auch im kleinsten Auto.
Platz ist auch im kleinsten Auto.
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18:30 Uhr: Wir machen eine Pause, damit ich meine Beine ausstrecken kann, und Costi sagt: "Die erste Hälfte meiner Fahrt war ganz schön langweilig. Die zweite macht dafür umso mehr Spaß." Eine gute Unterhaltung ist das Einzige, was wir beim Autostoppen zurückgeben können. Ich hatte oft gute mit Pendlern, Lkw-Fahrern oder Geschäftsleuten in schicken Autos. Über Mitfahrgelegenheitsseiten hätte ich die nie kennengelernt. "Man kommt anders an die Leute ran, wenn man für ein paar Stunden ihren Privatraum teilt und danach wieder aus ihrem Leben verschwindet", sagt Mitorganisator Holtkamp. Genau das ist das Schöne am Trampen.

19:30 Uhr: Costi fährt für uns sogar einen Umweg und bringt uns direkt zum Campingplatz in Szeged – dem heutigen Etappenziel. Wir wünschen ihm eine gute Weiterfahrt und setzen uns zu denen, die vor uns angekommen sind an einen kleinen Kiosk, bei dem Pommes und Burger verkauft werden. Die einen wurden mitten auf der Autobahn rausgelassen, die anderen haben noch eine Sightseeingtour durch Budapest und eine Einladung zum Pizzaessen bekommen. Den wenigsten geht’s um Schnelligkeit.

Beim Trampen löse ich mich aus der eigenen Routine, dem eigenen Umfeld, der eigenen Schicht und tauche für eine Weile in eine andere Welt ein – in das Auto der anderen. Trampen erweitert den Horizont ganz ohne Geld, klimaschädliche Fernreisen oder arrangierte Austausche. Ganz nebenbei lernt man, mit Rückschlägen umzugehen und trotzdem Zuversicht zu bewahren. (Jelena Malkowski, RONDO, 23.9.2023)