Liebe Leser:innen, am Ende meines letzten Blogbeitrags "Alternative Wohnformen für Menschen mit Demenz" habe ich dazu aufgefordert, Fragen zu posten. Im folgenden Beitrag werde ich die Fragen beantworten und Bezug auf aktuelle Entwicklungen nehmen.

Diagnosestellung und Behandlung

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich über Leistungsfähigkeit definiert. Alter, Krankheit, Behinderung, Armut – all das sind Stigmata, Brandmale, die jene kennzeichnen, die nicht oder nicht mehr dazu gehören. "Was bin ich noch wert? Ich vergesse alles, was ich gelernt habe. Ich kann nicht mehr lernen. Ich kann nichts mehr. Ich falle allen zur Last", hat mir ein Herr im Tageszentrum erzählt. Er ist knapp über 70 Jahre alt und ist von einer beginnend mittelgradigen Demenz betroffen. Er ist seiner Tochter zuliebe zu den Abklärungsuntersuchungen gegangen. Er sagte mir in unserem Gespräch: "Ich weiß, ich vergesse alles. Ich wollte das nicht wissen."

Demenz macht Angst. Eine Möglichkeit, dieser Angst zu begegnen, ist, sich ihr frühzeitig zu stellen. Dann, wenn "die Nebel" beginnen – wie es eine Dame beschrieben hat: "Es fühlt sich anders an als das normale Vergessen. Es ist schwerer und undurchsichtig, wie Nebel." Dieses Gefühl, diesen Nebel, bemerkte sie vor etwa zwei Jahren, es war ihr klar, dass das "nicht normal" sein kann. Sie hatte Angst und das Gefühl, sich niemandem mitteilen zu können. Einige Zeit lang hat sie versucht, den Nebel nicht zu bemerken. Lange ist es ihr nicht gelungen. "Dann bin ich also zu meinem Hausarzt. Der hat dann lange mit mir gesprochen, mich an einen Internisten, Labor und zur Gedächtnisambulanz ins AKH überwiesen. Habe ich alles gemacht. Dann war es klar. Ich war schockiert, hab mich verkrochen. Irgendwann dann hat eine Freundin zu mir gesagt: 'Gretl, du hast dich noch nie aufgegeben. Das wirst auch jetzt nicht machen.' Mit ihr hab ich dann begonnen zu sprechen." Mit Unterstützung ihrer Freundin ist sie dann ins Tageszentrum gekommen. Mittlerweile sagt Grete: "Hier geht es mir gut. Ich kann sein, wie ich bin."

Hand auf Schulter
Um das Thema Demenz gibt es viele Fragen, insbesondere von Angehörigen. Aufklärung hilft dabei auch, das Thema zu von Stigmata zu befreien.
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Nach österreichischem Gesetz gilt, dass medizinische Behandlungen bei entscheidungsfähigen und mit Unterstützung entscheidungsfähigen sowie auch bei nicht entscheidungsfähigen Personen nur nach deren Einwilligung oder nach deren mutmaßlichen Willen durchgeführt werden dürfen (siehe hierzu §252–§256 ABGB §§ 252 bis 256 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)). Dasselbe gilt auch für die Diagnostik. Viele An- und Zugehörige berichten in den Beratungen vom langen und immer wieder sehr zähen Weg, bis die betroffene Person einer Diagnostik zugestimmt hat. Dieser Umstand stellt für viele An- und Zugehörige eine große Belastung dar, oft fühlen sie sich ohnmächtig und wütend.

Eine Angehörige erzählte mir einmal: "Wissen Sie, es ist zum Verrücktwerden! Ich merke, dass vieles nicht mehr stimmt, aber mein Mann weigert sich zum Arzt zu gehen. Er sagt dann immer: 'Geh bitte, das stimmt doch alles nicht. Es ist alles wie immer!' Und ich, ich werd dann so wütend." Den Spagat zwischen dem Ansprechen des veränderten Verhaltens und dem dann oftmals folgenden Konflikt und dem Aushalten und Nichtansprechen ist für An- und Zugehörige schwierig und eine Zerreißprobe. Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Informationsangebote für An- und Zugehörige von Menschen mit Demenz (oder vermuteter Demenz) können dabei entlastend sein und werden oft als hilfreich erlebt.

Zentral erscheint es mir, dass Sie sich Begleitung und Entlastung für sich holen. Egal, ob Ihre Mutter einer Diagnostik zustimmen wird oder nicht, egal, ob sie dann einer medikamentösen Behandlung, Betreuung und Begleitung zustimmt oder nicht – Sie als Angehörige:r werden Ihre Mutter begleiten, und dafür brauchen Sie Kraft, Zuversicht und die Beratung und Vernetzung mit anderen An- und Zugehörigen. Das kann Ihren Handlungsspielraum und Ihren Blick erweitern und damit die "Pattsituation" zwischen Ihrer Mutter und Ihnen verändern.

Von der Verunsicherung zum Empowerment

Ja, Hilde K. hat den kursiven Teil von dem Gastblog, auf den das Posting verweist, selbst verfasst. In der ersten Variante hat sie ihn am Demenz-Meet, das im Juni 2023 im Kardinal König Haus in Wien stattgefunden hat, vorgelesen. Für den STANDARD hat sie ihn etwas abgeändert. Mittlerweile kommt Hilde K. zweimal pro Woche zu den ihr wichtigen Aktivitäten ins Tageszentrum und ist nach wie vor aktives Mitglied der Arbeitsgruppe für Betroffene der Österreichischen Demenzstrategie an der GÖG. Ich habe Hilde gefragt, was aus ihrer Sicht notwendig ist, um der Demenz, zumindest ein bisschen, den Schrecken zu nehmen. "Weißt du, die Menschen müssen wissen, dass es nicht so schlimm ist. Natürlich ist es nicht super, und immer wieder bin ich sehr traurig, aber was soll's? Der eine wird blind, der andere taub, der dritte kann nur mehr ganz schlecht gehen – und ich vergesse halt Sachen. Wenn die Leute das wüssten, dann wäre es nicht mehr so schlimm."

Hildes Geschichte ist ihre Geschichte. Die Geschichten anderer Menschen mit Demenz werden anders geschrieben als jene von Hilde. Jeder Mensch ist einzigartig, und jeder Mensch ist in seiner Demenz einzigartig. Unser gesellschaftlicher Auftrag muss sein, dass jeder Mensch mit Demenz bis zum Schluss Mensch ist und als Mensch im Mittelpunkt steht. Die Aufgabe ist also, das wir Rahmenbedingungen entwickeln, in der Menschen mit Demenz sowie deren An- und Zugehörige jene Begleitung und Betreuung erleben, die sie sich wünschen. So viel Unterstützung wie möglich und so wenig wie nötig erhalten – das sollte dabei das Leitmotiv sein. Unabhängig von den finanziellen Ressourcen. Ermöglichen können wir diese Gesellschaft, indem wir uns immer wieder bewusstmachen, dass jeder Mensch genau so gut ist, wie er ist (frei nach Cicely Saunders), und wir "nur" die Rolle der Wegbegleiter:innen innehaben.

Die Wichtigkeit der Abklärung

Ja und Nein. Diagnosen können beengen und verängstigen. Sie können Gefühle und Zustände jedoch auch konkretisieren, handhabbar und bearbeitbar machen. Durch eine (Ausschluss-)Diagnose entsteht die Möglichkeit zu agieren, anstatt auf Symptome "lediglich" zu reagieren. Gerade bei dem Verdacht auf Demenz oder andere neurodegenerative Erkrankungen ist eine Abklärung wichtig, um herauszufinden, ob es tatsächlich eine Demenz ist oder aber vielleicht eine andere, heilbare Erkrankung. So kann je nach Ergebnis der Untersuchungen die entsprechende Behandlung und Unterstützung folgen. Wie zum Beispiel bei Maria.

Maria (62) hat Sorge, dass sie an Demenz erkrankt ist. Sie hat, so wie Paul, bemerkt, dass sie sich schlechter orientieren konnte. Dass der Schlaf verändert war, die Köperwahrnehmung "irgendwie anders". Auch das Kurzzeitgedächtnis war nicht mehr so wie früher.

Auch Maria hat den Mut aufgebracht, ihre Befürchtung vor Demenz mit dem Hausarzt zu besprechen. Sie hat mit ihm ein umfassendes Anamnesegespräch geführt, bei dem ersichtlich wurde, dass eine intensivere Testung in einer Gedächtnisambulanz sinnvoll ist. Dort wurden dann unterschiedliche neuropsychologische Tests, Laboruntersuchungen und körperliche Untersuchungen durchgeführt, die letztendlich zeigten, dass Maria an einer starken Depression leidet. Durch passende medikamentöse Einstellung und Psychotherapie konnte Maria durch ihre Krankheit begleitet werden und fühlt sich mittlerweile wieder stärker.

Vergesslichkeit, der Verdacht einer Demenz und Demenz an sich werfen viele Fragen auf, die oftmals nicht abschließend und ausschließlich beantwortet werden können. Die Beschäftigung mit und das Erleben dieser Themen können als Prozess verstanden werden – sowohl für die betroffenen Menschen als auch für deren An- und Zugehörige. Jeder Prozess benötigt Prozessbegleitung. Durch diese Begleitung, ob dies nun demenzfreundliche Netzwerke, Selbsthilfegruppen für betroffene Menschen oder An- und Zugehörige, Demenzcafés, Community-Nurses, Beratungsstellen oder Betreuungs- und Pflegeangebote sind, kann der Prozess einer Demenzerkrankung gemeinsam und mit dem Fokus der Lebensqualität für alle Beteiligten gelebt und erlebt werden. Diese Begleitung und Unterstützung macht es auch möglich, die Fragen, die immer wieder auftauchen, zu besprechen. Der Blog "Umgang mit Vergesslichkeit und Demenz" soll ermutigen, Fragen zu stellen und Antworten zu fordern. Demenz geht uns alle an. (Marianne Buchegger, 27.9.2023)