Herbert Kickl
Parteichef Kickl kann die Gegensätze "aktive Sozialpolitik" und "schlanker Staat" nicht auflösen. Wohl aber überdecken.
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Wäre es nach der FPÖ gegangen, würden sich Österreichs Unternehmen viel Geld ersparen. Allein im vergangenen Jahr hätte der Staat ihnen um 7,1 Milliarden Euro weniger an Gewinnsteuern abgeknöpft – Geld, das sie anders hätten verwenden können. Denn: In ihrem jüngsten umfassenden Wirtschaftsprogramm, das aus dem Wahljahr 2017 stammt, haben die Freiheitlichen eine Halbierung der Gewinnsteuern für Unternehmen gefordert.

7,1 Milliarden Euro, das ist mehr als das Doppelte des gesamten Budgets für innere Sicherheit im Vorjahr. Viel Geld, das dem Staat beispielsweise gefehlt hätte, um die Polizei gut auszustatten. Für den Ankauf und die Ausbildung von Polizeipferden wäre da schon gar nichts drin gewesen.

Neoliberale Ansätze

Niedrigere Steuern für Unternehmer wie Arbeitnehmer, ein schlanker, entbürokratisierter Staat – das sind die Bausteine des freiheitlichen Wirtschaftsprogramms von damals.

Wirtschaftsliberale, viele würden sagen: neoliberale Ansätze, mit denen man die Freiheitlichen unter Herbert Kickl heute nicht unbedingt assoziieren würde. Heute, in der Zeit der Rekordinflation, geben sie sich einen sozialistischen Anstrich. Heute fordert FPÖ-Bautensprecher Philipp Schrangl eine Mietenbremse, weil Wohnen immer mehr zum "unleistbaren Luxus" werde. Heute will die FPÖ mehr Geld für staatlichen Wohnbau lockermachen.

Sozialistischer Anstrich

Staatliche Eingriffe soll es aber nicht nur am Wohnmarkt geben. Die FPÖ will auch Zinsen, die Banken für ihre variabel vergebenen Kredite verlangen, staatlich ersetzen. Am Arbeitsmarkt fordert die freiheitliche Sozialsprecherin Dagmar Belakowitsch eine Erhöhung von Arbeitslosen- und Notstandshilfe. Der Staat hätte auch längst am Energiemarkt aggressiver intervenieren müssen, wird argumentiert.

Was ihre Wirtschaftspolitik betrifft, passen die Freiheitlichen derzeit eigentlich besser zu den Sozialdemokraten als zur Volkspartei.

Wie kommt das? Hat sich die FPÖ so verändert, sich unter Herbert Kickl in ein neues (wirtschafts)politisches Gewand gekleidet? Und wenn ja: Welche Widersprüchlichkeiten ergeben sich für die Partei daraus, welche Folgen hat das für sie?

Der große Spagat

Tatsächlich versuche die FPÖ schon seit rund 20 Jahren einen "Spagat hinzubekommen", sagt der Wiener Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik. Auf der einen Seite wolle sie ihre wirtschaftsliberalen Inhalte aufrechterhalten, auf der anderen Seite müsse sie eine Wählerschaft bedienen, die immer stärker sozialstaatliche Unterstützungsprogramme wünsche. Rechte Parteien würden heute zu einem großen Teil von Menschen gewählt, die aufgrund ihrer Herkunft und ihres Elternhauses glauben, dass sie eigentlich einen höheren sozialen Status verdienen würden.

Tatsächlich kommt die FPÖ, historisch gesehen, aus einer ganz anderen Ecke. Der deutschnationale Kern der Partei setzte sich seit jeher aus dem akademischen Milieu zusammen. Freiberufler wie Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Lehrer oder Apotheker waren klassische FPÖ-Wähler und auch als Funktionäre tätig. Kleine Gewerbetreibende, aber auch bedeutende Industrielle standen seit jeher aufseiten der FPÖ, die sie nicht selten auch finanziell unterstützten: Herbert Turnauer etwa, dem der Industriekonzern Constantia gehörte, oder Harald Prinzhorn und später sein Sohn Thomas, beide Papierindustrielle. Ersterer hat zum Beispiel das Wirtschaftspolitische Institut der FPÖ mitfinanziert, das in den 1970ern der Thinktank der Freiheitlichen gewesen ist. Das Ziel lautete damals, die "Aktivelemente", heute würde man sagen: "die Macher" der Gesellschaft anzusprechen, schildert einer, der damals dabei war.

Leistung muss sich lohnen

In der Zeit, als die Roten unter Kanzler Fred Sinowatz und später unter Franz Vranitzky mit den Blauen unter Vizekanzler Norbert Steger koalierten (1983–1987), "waren wir der bürgerliche Teil der Koalition", beschreibt es ein früherer Freiheitlicher. Das Wirtschaftsprogramm der FPÖ lautete: "Leistung muss sich lohnen", zudem sei es der Partei darum gegangen, Eliten zu bilden.

Der erste große Wandel – oder auch die erste große Erweiterung – fand dann mit dem Auftritt von Jörg Haider auf der politischen Bühne statt. Der gebürtige Oberösterreicher und studierte Jurist wendete sich zum "kleinen Mann" hin und machte die Partei damit groß. Er habe noch den Spagat zwischen der alten Klientel und der neuen geschafft: "Er hat den Wählern signalisiert, dass er den kleinen Mann vertritt, und den Freiberuflern, Selbstständigen und Industriellen, dass er auch ihre Stimmen braucht, und sie davon überzeugt, dass seine Politik der Wirtschaft nütze", erzählt der frühere Freiheitliche.

Die FPÖ brach in die Arbeiterschicht ein, in die Ur-Bastion der Sozialdemokratie. Heute wählen vor allem Arbeiter, Menschen mit Lehrabschluss und berufsbildender Schulausbildung die Freiheitlichen. Einst, in den 1970ern und 80ern, waren es Maturantinnen und Maturanten, Akademiker und Akademikerinnen, die ihr Kreuz bei der FPÖ machten.

Der Bruch

In der Zeit der Opposition bereiteten die unterschiedlichen Ausrichtungen der Partei wenig Probleme. Das änderte sich, als die Freiheitlichen 2000 in die Regierung kamen. Spätestens mit der ersten schwarz-blauen Koalition unter Wolfgang Schüssel (ÖVP) und Susanne Riess-Passer (FPÖ; heute Riess-Hahn) ließ sich der Spagat nämlich nicht mehr leicht schaffen.

Die Regierung privatisierte eifrig, etwa das Dorotheum oder die Wohnbaugesellschaften rund um die Buwog. Der damalige Finanzminister Karl-Heinz Grasser machte das Nulldefizit zum Fetisch – Spielräume für Sozialpolitik und Steuersenkungen blieben da wenig. Schon damals wurde ein letztlich gescheiterter Versuch unternommen, die Sozialversicherungen zu reformieren und dort die Vertreter der Arbeitnehmerseite zu schwächen.

Dieser Mix gefiel freilich nicht allen. In den Ländern erlitt die FPÖ Wahlschlappen, die Partei implodierte schließlich 2002 in Knittelfeld, als sich FPÖ-Rebellen gegen die eigene Regierungsbeteiligung stellten. Die Folge waren Neuwahlen und ein Absturz der Partei – und Schwarz-Blau II. In der Folgezeit setzte die FPÖ in der Regierung das eine oder andere sozialpolitische Vorhaben dennoch um, etwa die Hacklerregelung, wonach Schwerarbeiter ohne Abschläge in Pension gehen konnten.

Blaues Dilemma

Sozialpolitische Akzente, eine Strategie, die auf Schwächung der Gewerkschaften abzielt, gepaart mit neoliberalen Ansätzen: So beschreibt der Soziologe Philip Rathgeb von der Universität Edinburgh die sozioökonomische Agenda der Partei damals.

Das Dilemma zwischen wirtschaftsliberaler Agenda und Politik für den kleinen Mann hat sich allerdings bis heute nicht aufgelöst. "Die freiheitliche Partei steht staatlichen Eingriffen kritisch gegenüber. Aber besondere Zeiten rechtfertigen besondere Eingriffe", sagt der aktuelle Wirtschaftssprecher Axel Kassegger im Hinblick auf die Inflationskrise. Die Freiheitlichen fordern ja, wie erwähnt, eine ganze Reihe von Eingriffen. Sie wollen aber zugleich weiter entlasten, hängen also an der Idee vom schlanken Staat fest. So soll nicht nur die Umsatzsteuer auf Lebensmittel gesenkt werden, die Lohnnebenkosten und Abgabenquote sollen weiter runter, die CO2-Steuer fallen.

Wie all das finanziert werden soll, wird nicht erläutert, abgesehen vom sehr allgemein gehaltenen Hinweis, dass man sich ansehen müsse, welche staatlichen Ausgaben überhaupt notwendig seien.

Kein roter Faden

In Zeiten guter Umfragewerte lassen sich derartige Widersprüchlichkeiten und Auslassungen natürlich gut überdecken. Das ist auch deshalb wichtig für die FPÖ, weil sie bestehende innere Gegensätze vermutlich gar nicht auflösen kann.

SPÖ und ÖVP sind laut dem Politologen Ennser-Jedenastik nach einem übergeordneten Ordnungsprinzip organisiert. Für die ÖVP ist das Leistung und Unternehmertum. Für die SPÖ sozialer Ausgleich durch den Staat. Diese Positionierung ergibt in vielen wirtschaftspolitischen Fragen einen roten Faden.

Wohlfühl-Themen

Für die FPÖ seien wirtschafts- und sozialpolitische Fragen dagegen sekundär, sagen Ennser Jedenastik ebenso wie der frühere FPÖ-EU-Abgeordnete Andreas Mölzer. Nativismus, also Einsatz für Inländer, gepaart mit Autoritarismus und Populismus sind die Kernbausteine der FPÖ. Ihr Hauptthema ist daher Ausländerfeindlichkeit, der Bau einer "Festung Europa". Dazu kommt eine ausgeprägte Abneigung gegen EU-Institutionen und ausländische Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation WHO.

Das sind Themen, bei denen sich die Partei wohlfühlt. Aber daraus ergibt sich noch keine einheitliche wirtschaftspolitische Linie, mit Ausnahme eines Sozialchauvinismus, wonach Sozialleistungen ausgebaut, aber "unseren Leuten" vorbehalten seien sollen.

Leistungen für unsere Leut

Mit diesem Credo versuchte Kickls Vorgänger Heinz-Christian Strache die eigene Partei in der Regierung mit der türkisen ÖVP (2017–2019) auf Linie zu halten: So wurden Familienleistungen im Inland erhöht, die Familienbeihilfe für Osteuropäer wurde gesenkt. Eine Maßnahme von Sebastian Kurz und Strache, die letztlich vom Europäischen Gerichtshof 2022 gekippt wurde.

Die neoliberale Agenda blitzte auch in dieser Zeit durch. Um ein Haar hätte die Koalition die Notstandshilfe – für die Sozialsprecherin Belakowitsch heute kämpft – abgeschafft. Erst im letzten Moment änderte die FPÖ ihre Meinung doch noch, als Berechnungen zeigten, dass vor allem jene draufgezahlt hätten, die schon lange im Berufsleben gestanden sind und viele Versicherungsjahre erworben haben. Die FPÖ stimmte damals auch einer deutlichen Senkung der Gewinnsteuern zu. In Umfragen tat das der FPÖ kaum weh, Innenminister Kickl trommelte laut genug andere Themen.

Bevor das Steuergeschenk an die Unternehmen umgesetzt wurde, platzte der Ibiza-Skandal. Der Rest ist Zeitgeschichte.

Du bist gut

Dass die Partei in wirtschaftspolitischen Fragen nicht immer klare Linien hat, findet in der blauen Wählerschaft seine Entsprechung: Laut Befragungen sind die Wählerinnen und Wähler beim Thema Migration einer Meinung – sie wollen keine Zuwanderer im Land haben. Bei wirtschaftspolitischen Themen wie etwa der Frage, ob Einkommensunterschiede zu groß sind, gibt es sehr unterschiedliche Antworten unter den FPÖ-Anhängern. Die Wähler haben keine klare Position.

Das ist also eine Achillesferse der Partei: Bezieht sie da klar Position, vergrämt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Teil ihrer Wählerschaft. Umso erstaunlicher ist es, dass in Interviews mit FPÖ-Spitzenpersonal Wirtschaftsthemen meist unterbelichtet bleiben und Migrationsfragen zentral sind. Denn bei letzterem Thema kann die Partei nur punkten.

Neues Leitmotiv

Wobei all das nicht heißt, dass unter Kickl nicht sehr wohl Verschiebungen stattfanden. Von der früheren Leistungsrhetorik ist wenig übrig, das neue Leitmotiv der Blauen umfasst alle, vom Arbeitslosen bis zum Manager, und dürfte lauten: Du bist gut, so wie du bist.

Das neue Feindbild sind für Kickl jene, die anderen "ein schlechtes Gewissen dafür machen, wie sie denken, was sie essen, wie sie heizen, wie sie fahren", sagte er diese Woche bei dem gemeinsamen Pressegespräch mit der AfD-Politikerin Alice Weidel. Kickl spricht damit auch den ideologischen Erzfeind an, die Grünen.

Eine Frage der Taktik

Der kleine Mann also, der in Inflationszeiten staatlich geschützt werden muss. Der Ruf nach höheren Sozialleistungen für "unsere Leute", von Pensionistinnen und Pensionisten bis hin zu Arbeitslosen. Diverse staatliche Eingriffe in den Markt. All das steht auf der linken Seite der FPÖ.

Der Traum vom schlanken Staat, von niedrigeren Steuern, Starthilfen für österreichische Jungunternehmer und Steuererleichterungen, die Ablehnung von Erbschafts- und Vermögenssteuern: All das steht auf der rechten Seite der FPÖ.

Kann sein, dass diese blauen Widersprüchlichkeiten im Wahlkampf gar nicht grell beleuchtet werden. Mit Migration, Klimaklebern, Ukrainekrieg, Russland-Sanktionen sowie Corona sind schließlich genug FPÖ-Leibthemen auf dem Tapet. Kommt es anders, wird es schwieriger. Ex-FPÖ-Politiker Andreas Mölzer bringt das so auf den Punkt: "Die große Frage wird sein, wie die FPÖ dieses Dilemma propagandistisch und wahltaktisch lösen wird." Spätestens wenn die FPÖ in die nächste Regierung kommt, dürften die eigenen Bruchlinien wieder sichtbar werden. Steuern senken und Polizeipferde kaufen – das geht eben schwieriger zusammen. (Renate Graber, András Szigetvari, 23.9.2023)