Bundeskanzler Karl Nehammer
Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) will glauben machen, dass die Hürden der vergangenen Jahren gemeistert wurden.
APA/GEORG HOCHMUTH

Karl Nehammer will uns zum Glauben führen. Im Vergleich zu ambitionierteren Missionaren, die ihre Mitmenschen immerhin von göttlichen Wesen und fabelhaften Verheißungen überzeugen müssen, hat sich der Bundeskanzler allerdings ein recht bescheidenes Credo ausgesucht. Wir sollen bloß an etwas glauben, dessen Existenz nun doch schon seit einiger Zeit gesichert ist: Österreich. Kommende Woche wird Nehammer seine frohe Botschaft erstmals unters Volk bringen – davon zeugt ein dem STANDARD von der ÖVP übermitteltes Papier, in dem die Partei eine Art Erklärungsversuch für den Sinn der nahenden Verkündigungen unternimmt, die im Rahmen der Initiative "Glaub an Österreich" erklingen sollen.

Wundersame Vorzeichen des Bevorstehenden gab es schon am Freitag. Da verbreitete Nehammer auf Internetplattformen einen kurzen Clip aus dem ORF-"Sommergespräch", in dem er den ehemaligen Bundeskanzler Leopold Figl (ÖVP) mit den Worten "Glaubt an dieses Österreich" zitiert. Am Ende des Videos wurde das Datum "26.9.2023" eingeblendet, was – wie aus dem Marketinglehrbuch – Spekulationen über die vermeintliche Wichtigkeit des Termins befeuerte.

Großartiges Österreich

Die politischen Umwälzungen dürften sich am Dienstag allerdings in Grenzen halten, denn Nehammer findet, dass sich eigentlich nicht viel ändern muss. Hierzulande würden ohnehin schon fast paradiesische Zustände herrschen, wie sich in seinem Papier lesen lässt. Die Initiative solle aufzeigen "wie großartig Österreich ist, wie stark die Menschen in diesem Land sind und was in den vergangenen Jahren alles gelungen ist." Die Krisen der vergangenen Jahre hätten zwar "zu einer teils negativen Stimmung" geführt, doch sei Österreich "gut durch die vergangenen Jahre gekommen". Ohne dass die Probleme im Bildungs- und Gesundheitssystem oder die Bedrohungen durch die Klimakrise auch nur erwähnt werden, behauptet er: "Gemeinsam haben wir jede Hürde gemeistert und alle Herausforderungen gestemmt."

Als Beleg für die nationale Jubelbilanz, die Nehammers ÖVP wohl auch auf das eigene Wirken an der Regierungsspitze zurückführen möchte, dienen ihr Zahlenvergleiche mit anderen Staaten. So habe Österreich 2022 in Pro-Kopf-Betrachtung die zweitgrößte Summe für Anti-Teuerungsmaßnahmen in der EU ausgegeben, führt das Papier etwa zutreffend an. Irreführend ist hingegen die Hervorhebung, dass Österreich "den höchsten Anteil erneuerbarer Energien" in der EU habe: Das stimmt zwar, wenn man nur den Stromverbrauch heranzieht, den Österreich laut Eurostat zu 76 Prozent aus Erneuerbaren deckt. Für eine umfassende Betrachtung ist jedoch der gesamte Energieverbrauch entscheidend, der beileibe nicht nur aus Strom besteht: In der Gesamtstatistik liegt Österreich beim Anteil von Erneuerbaren mit rund 36 Prozent nur an fünfter Stelle und ist noch meilenweit von der Ausschöpfung des Potenzials entfernt.

Historischer Kontext konträr

Etwas schief scheint auch der historische Vergleich, den der ÖVP-Chef für den Slogan seiner Initiative in Anspruch nimmt. Nehammers Beweihräucherung des aktuellen Zustands Österreichs steht im krassen Gegensatz zu den katastophalen Verhältnissen im Land unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, auf die Kanzler Leopold Figl mit seiner Weihnachtsansprache 1945 Bezug nahm. In der Bevölkerung grassierten damals Hunger und Krankheiten, viele Häuser lagen in Schutt und Asche. Es war diese Situation voller Elend, die dem Apell an den Glauben aus dem Mund des jahrelang im Konzentrationslager misshandelten Figl überhaupt erst ihre Bedeutung verlieh: "Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben, ich kann Euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle zum Heizen, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben nichts. Ich kann Euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich!"

Im Bild: Rede von Kanzler Leopold Figl im Rahmen der Feierlichkeiten zur Übergabe des ehemaligen Konzentrationslagers Mauthausen an die Republik Österreich 1947. Figl war während des Krieges selbst Häftling in Mauthausen, zuvor war er unter anderem im KZ Dachau interniert. In der Zeit vor der Nazi-Herrschaft war der 1902 geborene Niederösterreicher ein hochrangiger Funktionär des austrofaschistischen Regimes. Von 1945 bis 1953 war er Bundeskanzler der Republik Österreich, von 1953 bis 1959 Außenminister, 1965 starb er.
Mauthausen Memorial / Sammlungen

Streng genommen hat Figl diesen Wortlaut im Gründungsjahr der Zweiten Republik übrigens wohl gar nicht genau so verwendet. Von der angeblichen Radiosendung, in der er das 1945 gesagt haben soll, gibt es weder Tondokumente noch Mitschriften. Die berühmte Aufnahme, auf der Figls legendäre Sätze zu hören sind, sprach er erst 1965 wenige Wochen vor seinem Tod im Funkhaus auf Betreiben der Journalisten Ernst Wolfram Marboe und Hans Magenschab ins Mikrofon. Die beiden brauchten die Aufnahme für eine großinszenierte Show am Stephansplatz zum zwanzigsten Jahrestag des Kriegsendes. Magenschab hat dafür mithilfe Figls den Originaltext grob rekonstruiert.

Dass man sich in zwei Jahrzehnten auch an Nehammers Initiative noch erinnern wird, darf bezweifelt werden. Oder geglaubt werden. Die Details des neuen Anlaufs will der Kanzler in den kommenden Tagen mit sogenannten "Menschen aus der Mitte der Gesellschaft" präsentieren. (Theo Anders, 24.9.2023)