Sebastian Kurz
Muss sich vor Gericht verantworten: Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
APA/HANS KLAUS TECHT

Demnächst muss sich der Ex-Kanzler Sebastian Kurz vor Gericht verantworten. Die Liste der Vorwürfe gegen ihn ist bekannt, aber für den Normalbürger geht es dabei im Wesentlichen um Korruption und Freunderlwirtschaft. Das ist verboten, und das ist gut so. Aber wer alt genug ist, um sich an frühere Zeiten zu erinnern, weiß, dass das keineswegs immer so war. Man kann den Kurz-Prozess als Sittenbild von heute sehen, aber auch als Indiz für den Fortschritt, den die österreichische Gesellschaft in den letzten Jahren erlebt hat.

Fortschritt? Alles spricht mit Recht vom politischen Rechtsruck, den Österreich und Europa derzeit mitmachen. Aber es schadet nicht, sich auch daran zu erinnern, was vor gar nicht so langer Zeit noch als "normal" galt und heute verpönt ist.

Jemand hat einen Job nicht bekommen, vor allem im staatlichen oder staatsnahen Bereich, weil er nicht das "richtige" Parteibuch hatte? War seinerzeit, in der "guten alten Zeit", nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Jemand wurde gepuscht, weil er "einer von uns" war? Alltag. Ein Politiker rief bei einer Zeitung an und wünschte sich dieses und jenes? Jeder Journalist konnte mit Beispielen dienen. Wer sich darüber aufregte, musste sich gefallen lassen, als naiv bezeichnet zu werden.

Der "gelernte Österreicher" – auch ein Begriff, der inzwischen aus der Mode gekommen ist – lebte in einer Welt, in der die beiden großen politischen Parteien alles bestimmten und in der das Wort "Zivilgesellschaft" noch nicht erfunden war. Der Überdruss am in der Zeit der großen Koalition herrschenden Parteienproporz war paradoxerweise auch einer der Hauptgründe für den seinerzeitigen Wahlerfolg des jungen Sebastian Kurz und seines Teams.

Kavaliersdelikt Steuerhinterziehung

Weniger strenge Maßstäbe galten nicht nur in Sachen Personalpolitik und Parteienwirtschaft. Steuerhinterziehung, heute mehr oder minder streng geahndet, galt vor noch gar nicht zu langer Zeit als Kavaliersdelikt. Und auch das Thema sexuelle Belästigung war praktisch nicht vorhanden. Junge Frauen waren es gewohnt, unerwünschtes Machoverhalten von Kollegen und Chefs als Teil ihres Berufslebens in Kauf zu nehmen.

Und auch der Ton der Zeitungen hat sich geändert. Nicht nur in den Boulevardmedien, sondern auch in den Qualitätszeitungen war zur Zeit der Studentendemonstrationen gegen den Vietnamkrieg von "langhaarigen Schreihälsen" die Rede, die verhaftet gehörten. Was heute Herbert Kickl sagt, war damals vielfach Mainstream. Die Kronen Zeitung als einflussreichste Stimme des Rechtspopulismus im Lande ist seither deutlich in die Mitte gerückt.

Nicht alles ist in Österreich besser geworden, aber vieles doch. Das Rundfunkvolksbegehren und die nachfolgende ORF-Reform waren ein Befreiungsschlag. Die Aufdeckertätigkeit von Reportern des Profil veränderte den öffentlichen Diskurs, und die Gründungen von STANDARD und Falter eröffneten ein neues Kapitel in der Mediengeschichte des Landes. Dass zum Thema Kurz derzeit drei Filme mit unterschiedlicher Tendenz auf dem Markt sind, ist ein Stück lebendiger Demokratie. Dasselbe gilt für den bevorstehenden Prozess. Gut so.

Manchmal darf man sich in düsteren Zeiten auch ein bisschen Optimismus gönnen. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 27.9.2023)