Drei Personen, eine Frau, ein Kind, ein Mann, die auf eine Straße voller Autos blicken.
Seit der Militäroffensive Aserbaidschans flüchteten tausende Armenier aus der Region Bergkarabach.
Foto: Reuters / David Ghahramanyan

Der Bergkarabach-Konflikt stellt ein ethnoterritoriales Puzzle dar, das sich seit einem Vierteljahrhundert der Diplomatie widersetzt. Innerhalb von 35 Jahren wurden zwei Kriege um dieses umstrittene Stück Land geführt. Der erste, von 1992 bis 1994, endete mit einem Sieg Armeniens. Der zweite Krieg, im Jahr 2020, dauerte 44 Tage an, drehte das Kräfteverhältnis um und brachte einen Sieg für Aserbaidschan.

Neue Spannungen

Die Spannungen stiegen seit dem Winter, als die aserbaidschanischen Behörden den Latschin-Korridor, die einzige Landverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach, schlossen, wieder stark an. Aserbaidschan verhängte eine Blockade, die die Zivilbevölkerung daran hinderte, sich mit Lebensmitteln, Medikamenten und Energie zu versorgen.

In einem Telefongespräch mit dem armenischen Premierminister Nikol Paschinjan drückte US-Außenminister Antony Blinken seine "tiefe Besorgnis" um die Bevölkerung der Region aus. Laut den Behörden in Baku wird die "Abreise" derjenigen, die nach Armenien fliehen wollen, nicht verhindert. Genau das dürfte Aserbaidschan bezwecken.

Territoriale Souveränität

Die altbewährten Völkerrechtsprinzipien der territorialen Souveränität und des Selbstbestimmungsrechts der Völker stehen sich wieder einmal gegenüber. Verschiedene Friedensszenarien mit verschiedenen Akteuren zeichnen sich ab. Auf der ersten Ebene stehen sich Armenien und Aserbaidschan gegenüber, auf der zweiten jedoch Russland und der Westen.

Auf regionaler Ebene strebt Aserbaidschan einen Bestrafungsfrieden auf Kosten der geltenden internationalen Rechtstexte an, einen echten Ausschlussfrieden. Baku möchte seine Vision in der Region durchsetzen und die armenische Bevölkerung in Bergkarabach dazu bringen, entweder die Region zu verlassen oder sich als aserbaidschanische Bürgerinnen und Bürger dem Willen der Alijew-Dynastie zu unterwerfen. An seiner Seite kann Ilham Alijew auf die Unterstützung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zählen, der die in der Türkei beliebte Formel "ein Volk, zwei Staaten" aufgreift, um seine brüderliche Beziehung zu Baku zu beschreiben.

Gerechter Frieden

Armenien hingegen strebt einen Rechtsfrieden an, der die Selbstbestimmung, die Achtung der Staatsgrenzen und die der Menschenwürde betrifft. Die Machtlosigkeit der Behörden ist in Bergkarabach spürbar, da das Kräfteverhältnis am Verhandlungstisch grausam unausgewogen ist.

"Wladimir Putin bezweckt, einen imperialen Frieden durchzusetzen."

Russland als ehemalige Vormundschaftsmacht trägt eine nicht unwesentliche Verantwortung für den zweiten Angriffskrieg Aserbaidschans, da es öffentlich die Armenische Republik für ihr Streben Richtung Westen bestrafen will. Wladimir Putin bezweckt, einen imperialen Frieden durchzusetzen, um weiterhin seinen Einfluss auf die Region ausüben zu können. Der Westen hingegen strebt einen gerechten Frieden an, der die territoriale Integrität beider Staaten respektiert, den Handel erleichtert und die Achtung der Grundrechte der betroffenen Völker fördert.

Zahlreiche internationale Organisationen könnten das Zünglein an der Waage sein – nur sind sie bisher erfolglos: Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen hat Aserbaidschan bereits zweimal ermahnt, den Latschin-Korridor zu öffnen. Auch die OSZE, die seit 1992 für die Wiederherstellung des Friedens in der Region zuständig ist, scheitert daran, die Gegner an einen Tisch zu holen und eine gemeinsame Lösung zu erarbeiten. Auch der Europarat, dem Aserbaidschan und Armenien angehören und der die Aufgabe hat, die Rechte gefährdeter Minderheiten zu schützen, scheint machtlos zu sein. Und die EU? Angesichts des Gas-Deals mit Aserbaidschan ist nicht davon auszugehen, dass sich die Union mit Sanktionen gegen die Autokratie wenden wird. Der Nato sind ebenfalls die Hände gebunden, da die Türkei als Mitgliedsstaat jegliche Lösung blockiert.

Das Schlimmste verhindern

Die Vereinten Nationen sollten nun die Führung übernehmen. Frankreich, ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, rief dazu auf, sich zu mobilisieren, um eine menschliche Tragödie und eine Verschlimmerung der Krise zu verhindern, da es sich "nicht mitschuldig an der Massenflucht einer bereits schwer geprüften Bevölkerung machen" wolle. Am 23. September verlangte der armenische Außenminister die "sofortige Entsendung von Vertretern verschiedener UN-Organisationen" nach Bergkarabach, "um die Einhaltung der Menschenrechte und die humanitäre und Sicherheitslage zu überwachen und zu bewerten".

In den vergangenen 30 Jahren hat die internationale Staatengemeinschaft tatenlos zugesehen, wie ein Volk und sein Territorium einer ethischen Säuberung zum Opfer fällt – die Armenier in Bergkarabach haben schon verloren. Sie mussten ihre Häuser verlassen und konnten nur mit den nötigsten Habseligkeiten fliehen. Aber das scheint nur der Anfang vom Ende zu sein, denn der armenische Genozid läuft Gefahr, sich zu wiederholen. Die internationale Gemeinschaft muss sich dieser Frage unverzüglich annehmen, um das Schlimmste zu verhindern, der "türkisch-aserbaidschanische" Krieg ist nur scheinbar territorial und gleicht vielmehr einer Unternehmung zur Vernichtung eines Volkes. Es heißt ja, die Hoffnung stirbt zuletzt. (Arlette Zakarian, 28.9.2023)