Am 9. Juni hieß es bereits, es sei ein Durchbruch in Sachen EU-Asylreform erzielt worden. Nun, genauer gesagt am Donnerstag, wurde ebenfalls ein wichtiger Konsens verkündet, während Italien gleichzeitig aber Vorbehalte anmeldete. Derzeit heißt es, dass noch einige Detailfragen zu klären seien und eine Einigung in den nächsten Tagen zu erwarten sei. Doch auch das wäre nur ein Etappensieg – zur geplanten Reform ist es dann noch ein gutes Stück. DER STANDARD erklärt, was genau noch zu tun ist und worum es überhaupt in dem Maßnahmenpaket geht.

Video: EU-Innenminister nähern sich Einigung auf Asyl-Krisenverordnung
APA/kha

Frage: Was ist also der Inhalt der geplanten Reform?

Antwort: Dafür muss man auf den 23. September 2020 zurückblicken. Nach Jahren der Uneinigkeit hat die EU-Kommission damals einen lange erwarteten Entwurf eines neuen Asyl- und Migrationspakets vorgelegt. Dieses sollte die Grundlage sein für ein gemeinsames Vorgehen, um die irreguläre Migration nach Europa endlich in den Griff zu bekommen. Enthalten sind darin unter anderem raschere Verfahren an den Außengrenzen, besseres Grenzmanagement, verstärkte Kooperation mit Drittstaaten sowie das neue Prinzip der "verbindlichen Solidarität", das bei der heiklen Frage der Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU einen Ausweg ermöglichen soll.

Diese kann man getrost als größte Hürde hin zu einer gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik der EU bezeichnen. Im Kern geht es darum: Wenn an den EU-Außengrenzen besonders viele Migranten und Flüchtlingen ankommen, sollen diese nach einem Schlüssel auf alle EU-Länder verteilt werden, um die Erstaufnahmeländer zu entlasten. Derlei Initiativen sind aber bisher allesamt am großen Widerstand einiger Länder gescheitert, darunter Ungarn, Polen und teilweise auch Österreich. Auch jetzt wäre eine Umsetzung unrealistisch.

Mit der "verbindlichen Solidarität" soll Ländern die Möglichkeit gegeben werden, anderweitig einen Beitrag zu leisten, also durch finanzielle oder sonstige Mittel. Dabei wurde auch der Begriff "Rückführungspatenschaften" kreiert, der übrigens 2020 in Deutschland zum Unwort des Jahres gekürt wurde. Dieses Konzept sieht vor, dass Länder, die niemanden aufnehmen wollen, die Abschiebung von jenen Migranten übernehmen, deren Asylantrag in anderen Mitgliedsländern abgelehnt wurde.

Aber egal wie man alles nennt, dieser von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen präsentierte Entwurf erntete rasch viel Kritik, eine Umsetzung schien in weiter Ferne.

Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer werden von der NGO Proactiva Open Arms gerettet
Was künftig mit jenen Flüchtlingen und Migranten passiert, die es über das Mittelmeer nach Europa schaffen, ist gerade das große Thema bei der Europäischen Union.
AFP/MATIAS CHIOFALO

Frage: Was hat das mit der aktuellen Situation mehr als drei Jahre später zu tun?

Antwort: Nach Jahren des Stillstands haben sich die EU-Organe heuer zusammengerauft. Das Ziel: eine EU-Asylreform vor der geplanten Europawahl im Juni 2024 zu beschließen. Einerseits will man in Sachen Asyl im Wahlkampf konkrete Maßnahmen präsentieren können, um rechten Parteien hier Paroli bieten zu können. Andererseits fürchtet man, dass nach der Wahl neue Kräfteverhältnisse, sprich gestärkte rechte Parteien, herrschen könnten und dann eine Einigung noch unwahrscheinlicher wäre.

Mit dieser Vorgabe und von der Leyens Entwurf von 2020 als Grundlage haben sich das Europäische Parlament, der Europäische Rat, also das Gremium der Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, sowie die Europäische Kommission darauf geeinigt, in sogenannten Trilogen auf ein gemeinsames Asylpaket hinzuarbeiten.

Frage: Was ist diesbezüglich schon passiert?

Antwort: Zunächst hat der Innenausschuss des Europäischen Parlaments Ende März nach jahrelangen Verhandlungen seine Position zur Asylreform festgelegt. Diese wurde einige Wochen später vom Parlament bestätigt. Unter anderem spricht man sich für die Registrierung von illegal einreisenden Menschen an den EU-Außengrenzen aus. Außerdem müsse es einen unabhängigen Mechanismus geben, um Grundrechte zu überwachen. Damit sollen rechtswidrige "Pushbacks" verhindert werden, also das Zurückdrängen von Flüchtlingen, ohne dass ihr Anspruch auf Asyl geprüft wurde. Auch sollten die EU-Länder mehr Solidarität untereinander in der Migrationspolitik zeigen, unter anderem durch die verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen.

Anfang Juni haben die EU-Länder nachgezogen und sich ebenfalls nach jahrelangen Verhandlungen auf eine gemeinsame Position geeinigt. Demnach sollen an den EU-Außengrenzen ankommende Menschen, die aus als sicher geltenden Ländern oder aus Ländern kommen, deren Asylanerkennungsquote in der EU unter 20 Prozent liegt, in große Asyllager mit haftähnlichen Bedingungen kommen.

Das geplante Schnellverfahren für sie soll maximal zwölf Wochen dauern, binnen weiterer zwölf Wochen sollen abgelehnte Asylwerberinnen und Asylwerber abgeschoben werden. Im Idealfall in das Heimatland, aber wenn das nicht möglich ist, auch in einen Drittstaat, zu dem der oder die Abgeschobene eine Verbindung hat. Wie diese aussehen muss, soll im Ermessen des abschiebenden EU-Staates liegen.

Die Länder mit EU-Außengrenzen, in denen diese Zentren entstehen sollen, sollen im Gegenzug von den anderen Mitgliedsländern entlastet werden. Diese nehmen entweder Asylwerber auf oder zahlen für jeden nicht aufgenommenen Flüchtling kolportierte 20.000 Euro.

Polen, Ungarn, Malta, die Slowakei und Bulgarien stimmten gegen all diese Maßnahmen, allerdings war für eine Einigung nur eine qualifizierte Mehrheit nötig. Das heißt, 55 Prozent der Mitgliedsstaaten, die 65 Prozent der EU-Einwohner vertreten, mussten zustimmen. Wie sich aber noch zeigen sollte, bedeutete diese Einigung nicht, dass man sich auch wirklich in allen Punkten einig war.

Frage: Wie ging es dann weiter?

Antwort: Die Triloge starteten, allerdings gab es am 20. September einen Rückschlag. Das Europäische Parlament erklärte, Verhandlungen über mehrere Gesetzestexte der geplanten EU-Asylreform vorerst auszusetzen. Als Grund wurde genannt, dass sich die EU-Staaten nicht auf eine gemeinsame Position zu einer Krisenverordnung einigen konnten.

Die unterschiedlichen Teile des Pakets seien miteinander verbunden, erklärte das Parlament an jenem Tag in einer Aussendung. Nur in einigen Teilen weiterzuverhandeln könne in eine Sackgasse führen und somit die breite Unterstützung, die die Reform im Parlament genieße, aufs Spiel setzen.

Frage: Was ist die Krisenverordnung?

Antwort: Sie soll in Krisensituationen, wie es sie beispielsweise erst vor kurzem auf der italienischen Insel Lampedusa gab, bestimmte Vorgangsweisen definieren. Demnach dürften an den Außengrenzen Menschen nicht mehr nur zwölf, sondern 20 Wochen lang streng abgeschottet werden.

Außerdem, so die Befürchtung (auch in Österreich), könnten betroffene Länder sich mehr Zeit lassen, Ankommende zu registrieren. Die Pflicht, registrierte Flüchtlinge aus anderen EU-Ländern zurückzunehmen, könnte ausgesetzt werden. Anders gesagt: Länder wie Italien oder Griechenland könnten in einer Krisensituation die Flüchtlinge und Migranten einfach durchwinken, ohne fürchten zu müssen, dass diese zurückgeschickt werden.

Frage: Wieso wurde die Krisenverordnung zum Streitpunkt?

Antwort: Die deutschen Grünen, Teil der Ampelkoalition, hatten sich angesichts der geplanten Verschärfungen in Krisensituationen dagegen ausgesprochen und so eine Einigung blockiert. Vor dem Treffen der EU-Innenministerinnen und -Innenminister am Donnerstag sprach der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aber ein Machtwort und drängte auf eine Einigung in dieser Angelegenheit.

Frage: Was kam bei dem Treffen schließlich heraus?

Antwort: Am Donnerstagnachmittag wurde nach dem Treffen verlautbart, dass Deutschland zustimmen werde und so eine Einigung möglich sei. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erklärte, es sei nun sichergestellt, dass der Krisenfall nicht von einzelnen Ländern, sondern nur vom Europäischen Rat ausgerufen werden kann, und auch das nur mit qualifizierter Mehrheit. Und die betroffenen Staaten an den Außengrenzen müssten auch im Krisenfall alle Ankommenden registrieren. Außerdem, so Faeser, habe sie Erleichterungen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge erreicht, etwa dass Kinder und deren Familien an den Außengrenzen priorisiert behandelt werden.

Frage: Nun kann also mit dem EU-Parlament weiterverhandelt werden?

Antwort: Noch nicht. Jetzt ist zwar Deutschland dabei, aber Donnerstagabend hat Italien Bedenken angemeldet, sodass die notwendige qualifizierte Mehrheit wieder wackelt. Aus Rom hieß es, man benötige ein paar Tage, um die Vorschläge zu prüfen. Als gesichert gilt aber, dass es Italien dabei um den Streit mit Deutschland über die Subventionierung von NGO-Schiffen geht.

Berichten zufolge will die Rechtsregierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Arbeit von privaten Seenotrettern im Mittelmeer als "Instrumentalisierung" von Migranten werten und bestrafen können. Für die deutsche Regierung und dabei vor allem für die Grünen wäre das ein absolutes No-Go.

Sollte es hier trotzdem in den nächsten Tagen zu einer Einigung kommen, muss der Entwurf zur Krisenverordnung noch vom Ausschuss der EU-Botschafter formell beschlossen werden. Dann können auch die Triloge fortgesetzt werden.

Frage: Welche Hürden gibt es danach noch auf dem Weg zur EU-Asylreform?

Antwort: Wie man an den jeweiligen Positionen ablesen kann, ist dem Europäischen Parlament die Wahrung der Menschenrechte wichtig, während die Mitgliedsländer vor allem auf Abschottung und Sicherheit setzen. Als heikel gilt auch, dass die Abgeordneten auf eine verpflichtende Verteilung von Schutzsuchenden pochen. Aufgrund des Zeitdrucks gehen Beobachter wie EU-Politiker und -Politikerinnen aber davon aus, dass man auch in brisanten Fragen einen Konsens finden werde, um die Reform rechtzeitig vor der Wahl beschließen zu können.

Frage: Ist das dann der sogenannte große Wurf? Wird die Reform also dafür sorgen, dass sich die Lage an den EU-Außengrenzen entspannt?

Antwort: Wenn es wirklich dazu kommt, ist das schon ein großer Schritt, denn dann hätten sich EU-Länder nach jahrelangen Blockaden tatsächlich auf gemeinsame Asylregeln verständigt. Allerdings bleiben, neben menschenrechtlichen Bedenken, weiterhin zwei Kernprobleme:

Einerseits geht es um die Abschiebung abgelehnter Asylwerberinnen und Asylwerber, was durch die geplanten Schnellverfahren an den Außengrenzen noch rascher erfolgen soll. Die meisten Herkunfts- und Transitstaaten nehmen diese Menschen aber nicht zurück. Es mangelt an entsprechenden Abkommen, bisherige finanzielle oder sonstige Anreize vonseiten der EU haben diese Länder nicht überzeugt. Und es gibt keinerlei Anzeichen, dass sich daran etwas ändern wird. Dann bringen auch die rascheren Verfahren nichts.

Das andere große Problem ist die Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU. Der Widerstand ist, angeführt von Ungarn und Polen, weiterhin groß. Würden sie wenigstens die kolportierten 20.000 Euro pro nicht aufgenommenen Flüchtling zahlen, wäre das besser als nichts. Aber auch das ist fraglich.

Ob und wie diese beiden Probleme gelöst werden, wird entscheiden, ob die Asylreform ein Erfolg oder ein Misserfolg wird. (Kim Son Hoang, 29.9.2023)