Mann sitzt vor dem PC.
Menschen müssen Algorithmen trainieren. Diese Arbeit wird oft in Länder des globalen Südens ausgelagert.
REUTERS/Shailesh Andrade

Wer die Suchmaschine Google nutzt, wird vermutlich schon mal über eines dieser nervigen Bilderrätsel gestolpert sein: Auf einem Foto, das in sechzehn quadratische Kacheln unterteilt ist, muss der Nutzer diejenigen auswählen, auf denen eine Ampel oder Kreuzung zu erkennen ist. Oder ein Zweirad. Mit diesen Captchas soll bewiesen werden, dass man ein Mensch und kein Roboter ist, der das Netz mit Suchanfragen flutet. Das Lösen von Bilderrätseln dient aber noch einem anderen Zweck: dem Training von Robotaxis der Google-Schwester Waymo.

Verschwendete Zeit oder unbezahlte Arbeit?

Ein Computer kann ein Stoppschild von einem Vorfahrtschild nicht unterscheiden. Er muss das aber lernen, wenn dereinst Roboterautos unfallfrei durch den Verkehr fahren sollen. Im Gegensatz zu einem Kleinkind, dem man ein paar Beispiele reichen, braucht ein Machine-Learning-Algorithmus sehr viel mehr Anschauungsmaterial, um eine Ampel oder Kreuzung zu erkennen: zigtausende Fotos, auf denen bereits draufsteht, was zu sehen ist. Diese Kennzeichnung von Daten, im Fachjargon Datenannotation genannt, erfolgt noch immer manuell. Zum Beispiel von Google-Nutzern, die ein blaues Häkchen an Kacheln mit Ampeln setzen und damit verhindern, dass das Waymo-Fahrzeug, Googles selbstfahrendes Auto, bei Rot über die Kreuzung fährt.

Die IT-Sicherheitsfirma Cloudflare hat ausgerechnet, dass die Menschheit pro Tag 500 Jahre mit der Lösung von Bilderrätseln verschwendet. Man kann das als Zeitverschwendung, aber auch als unbezahlte Arbeitszeit verbuchen, denn der Nutzer, der Objekte markiert und damit KI-Systeme trainiert, wird ja dafür nicht entlohnt. Tech-Konzerne lagern diese Arbeit aber nicht nur an Internetnutzer aus, sondern auch an Klickarbeiter im Globalen Süden.

Digitale Crowdworker in Kenia, Indien, Venezuela und Co

Allein auf den Philippinen sitzen zwei Millionen Crowdworker in stickigen Internetcafés und klicken sich für ein paar Dollar am Tag in mühevoller Kleinstarbeit durch Video-Feeds und Satellitenaufnahmen, um darin Bäume oder Fußgänger zu kennzeichnen. Mausklick für Mausklick trennen sie die Spreu vom Weizen und bereiten das Datenfutter für die hungrigen Maschinen auf. Es sind die Farmer der KI.

Der KI-Boom, der durch ChatGPT ausgelöst wurde, hat die Nachfrage nach strukturierten Datensätzen explodieren lassen. Nach Schätzungen der Marktforschungsfirma Grand View Research soll die Annotationsindustrie bis 2030 auf ein Volumen von 17,1 Milliarden Dollar anwachsen. In Ländern wie Kenia, Indien und Venezuela sind in diesem Jahr tausende neue Jobs für Datenlabeling entstanden. Die Mikroarbeiter klassifizieren Emotionen von Menschen in Videoanrufen, kategorisieren Kleidung von Selfie-Aufnahmen in Spiegeln oder etikettieren Lebensmittel, damit der smarte Kühlschrank diese wieder nachbestellen kann.

Zwar werben Plattformen wie Remotasks, einer der größten Player der Industrie, mit flexiblen Arbeitszeiten und Homeoffice. Doch die Arbeit ist repetitiv, monoton – und häufig schlecht bezahlt: Die Mikroarbeiter kommen auf einen durchschnittlichen Stundenlohn von zwei bis drei Dollar. Das reicht selbst in Entwicklungsländern nicht, um eine Familie ordentlich zu ernähren, zumal die Ärmsten der Armen von der globalen Inflation, besonders betroffen sind. Nach Recherchen der Washington Post hält Remotasks, deren Eigner das milliardenschwere US-Start-up Scale AI ist, Löhne teilweise zurück oder zahlt diese gar nicht aus. Kritiker werfen der Plattform vor, Menschen auszubeuten.

Miserable Arbeitsbedingungen

In Kenia, wo die Softwareschmiede OpenAI das Labeln seiner Daten outsourct, haben Content-Moderatoren vor kurzem in einer Petition die miserablen Arbeitsbedingungen angeprangert: Die Klickarbeiter, die von einem Subunternehmen beauftragt waren, mussten gewaltverherrlichende, teils bestialische Bilder und Texte sichten, damit diese nicht an den Benutzeroberflächen der Smartphones und Laptops aufpoppen – etwa Vergewaltigungs- und Mordfantasien, die in den dunklen Ecken des Internets verbreitet werden.

Niemand will so etwas lesen, doch damit der Giftmüll nicht ins Futter der datenhungrigen Maschinen gelangt, muss er vorher aussortiert werden. Und das geht nur manuell. Der Mensch ist noch immer die billigere Sortiermaschine. Die digitalen Lumpensammler, die für ein paar Dollar am Tag diesen Schrott ausmisten, sind durch die Arbeit schwer traumatisiert. "Es hat mich komplett zerstört", zitiert der Guardian einen Content-Moderator, der im Auftrag von OpenAI arbeitete. Psychologische Unterstützung? Fehlanzeige.

Entfremdung der Arbeit

Der britische Autor Phil Jones beschreibt in seinem Buch Work Without the Worker (2021), wie die Plattformökonomie zu einer totalen Entfremdung von Arbeit führt. Die "Tasker", die sich von Mikroaufgabe zu Mikroaufgabe hangeln, wissen oft gar nicht, warum sie Straßen oder Schienen in Videos markieren. Manche glauben, sie machen das für ein Computerspiel, andere wiederum gehen davon aus, sie arbeiten im Auftrag eines Vermessungsamts.

Im Rahmen des Project Maven hat Google im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums hunderte Klickarbeiter angeheuert, die für einen Dollar pro Stunde Bilderrätsel lösten. Dass sie damit eine KI zur autonomen Zielerkennung für Drohnen trainierten, wussten sie nicht. (Adrian Lobe, 4.10.2023)