"Eclisse" – ein Klassiker aus dem Hause Artemide. Entworfen hat sie Vico Magistretti im Jahr 1965.
Fotos: Artemide / Ph. Ferrari

Carlotta de Bevilacqua sitzt in ihrem Büro in Mailand und versteht die Welt nicht mehr. "Der Hunger. Das Klima. Die Ungerechtigkeit! Es ist zum Verzweifeln", sagt die Italienerin. Wir sind verabredet, um mit der Chefin des renommierten Leuchtenhauses Artemide über ihre Arbeit zu reden.

Carlotta de Bevilacqua, Architektin und Chefin im international renommierten Leuchtenhaus Artemide.
Carlotta de Bevilacqua, Architektin und Chefin im international renommierten Leuchtenhaus Artemide.
Lea Anouchinsky

STANDARD: Dostojewski schrieb bekanntermaßen, Schönheit werde die Welt retten. Wenn Sie sich die Krisenherde dieser Welt anschauen: Können Sie diesem Glaubenssatz noch etwas abgewinnen?

Carlotta de Bevilacqua: Was ist Schönheit? Eine griechische Skulptur? Ein Gemälde von Leonardo? Schauen Sie: Schönheit ist ein harmonisches Maß, eine Synthese aus vielen Dingen. Für mich ist Schönheit in erster Linie Design. Damit meine ich keine einzelnen Objekte oder Produkte, sondern eher Visionen. Und was ist der Ausgangspunkt aller Schönheit? Energie. Die Energie des Planeten, aber auch die zwischenmenschliche Energie. Die Energie, die für das Licht sorgt. Insofern: Ja, ich glaube an diesen Grundsatz. Und ich sehe mich als Entdeckerin auf der Suche nach Schönheit. Nicht nach einer einzigen, sondern nach allen Schönheiten dieser Welt.

STANDARD: Würden Sie sagen, in Ihrer Arbeit geht es darum, die Welt durch Licht ein bisschen schöner zu machen?

De Bevilacqua: Licht zu gestalten ist vor allem eine ethische Geste. Ohne Wasser, ohne Luft, ohne Licht gäbe es keine Welt, keine Menschen, keine Natur. Führen Sie sich mal vor Augen, welchen Fortschritt wir seit dem 18. Jahrhundert gemacht haben: Viele Menschen verdanken Edisons Glühbirne eine außerordentliche Steigerung ihrer Lebensqualität. Und da hörte es nicht auf. Auf Helgoland wurde die moderne Physik geboren; die Quantenmechanik löste eine technologische Revolution aus, deren Folgen wir heute noch gar nicht absehen können.

STANDARD: Ihre Arbeit wurde maßgeblich von einer technischen Neuerung getragen – der LED. Welche Folgen hatte das?

De Bevilacqua: Die Einführung der LED hat die Art und Weise, wie wir entwerfen, völlig verändert. Plötzlich gab es keine Grenzen mehr, man konnte Lichtgestaltung völlig neu denken. Wir sollten die LED nicht als traditionelle Lichtquelle betrachten, sondern als ein Phänomen der Quantenmechanik. Wir durchleben gerade eine Revolution, die mit einem epochalen technologischen und wissenschaftlichen Wandel verbunden ist. Die Gestaltung von Licht beschränkt sich nicht mehr nur auf die Gestaltung von Leuchten, sondern beinhaltet längst auch die Entwicklung von Interaktionen, Sensoren, dem Internet der Dinge.

STANDARD: Wie kann man das verstehen?

De Bevilacqua: Licht kann auf zwei Arten interpretiert werden. Einerseits als Wellenlänge, also ein Spektrum, das vom menschlichen Auge wahrgenommen wird und unser psychologisches und physiologisches Wohlbefinden beeinflusst. Aber auch als Energiemenge, die aus winzigen Energieteilchen oder Photonen besteht. Die Photonik, ein Zweig der Optik, befasst sich mit der Kontrolle der Lichtenergie und wird unser Leben und unsere Gewohnheiten revolutionieren. Licht fördert das Wachstum von Natur und Umwelt und kann sogar Daten und Informationen übertragen – im Übrigen rund 30-mal schneller als Wi-Fi. Nur weil wir das Licht in Wellenlängen wahrnehmen, heißt das nicht, dass es da nicht noch mehr gibt.

Leuchte aus der Familie
Leuchte aus der Familie "Vine Light", entworfen von der BIG – Bjarke Ingels Group. OBEN Pilzartige und tragbare Leuchte "Takku" von Foster + Partners Industrial Design.
Fotos: Artemide / Ph. Ferrari

STANDARD: Sollte Licht in Zukunft also eher wie ein Material genutzt werden?

De Bevilacqua: Licht ist ein großartiges Material in der Raumkonstruktion. Es kann einer Umgebung Form und Identität verleihen, indem es eine Beziehung herstellt, die Menschen in vielfacher Hinsicht mit einbezieht: wahrnehmungsbezogen, kommunikativ, emotional, psychologisch – sogar physiologisch.

STANDARD: Sie sind eigentlich studierte Architektin. Wären Sie lieber Physikerin geworden?

De Bevilacqua: Ich habe mich für Architektur entschieden, weil sie mehr Fehler erlaubt als die Physik. Und weil man Unzulänglichkeiten durch Kreativität kaschieren kann.

STANDARD: Ihre Mutter war Architektin …

De Bevilacqua: … meine Tochter ist es auch. Aber familiäre Gründe spielten bei der Berufswahl nie eine Rolle. Ich habe mich für die Architektur entschieden, weil sie eine Kultur des Tuns ist.

STANDARD: Zu Artemide kamen Sie eher zufällig: Sie lernten den Ende 2020 verstorbenen Firmengründer Ernesto Gismondi kennen und verliebten sich.

De Bevilacqua: Ich begegnete Ernesto auf den Stufen der Mailänder Triennale. Das war in den 80ern und wie im Film: Ich ging die Treppen hinunter, er hinauf. Unsere Blicke trafen sich. Er hatte strahlend blaue Augen. Ich war 27 und er 53, aber ich fühlte mich viel älter als er. Abends gab es ein Dinner, und Ernesto saß mir gegenüber. Ich dachte zuerst, Gott, so ein typisch reicher Schnösel. Aber er war ein Genie. Ein Katalysator für Ideen, völlig furchtlos. Die Leute liebten ihn.

STANDARD: Mit Ernesto fanden Sie nicht nur die Liebe Ihres Lebens, sondern auch eine Art Berufung.

De Bevilacqua: Er war Ingenieur, ein Macher. Und ich eine Kommunistin, die die Welt retten wollte. Ich habe mich mehr für die humanistischen Aspekte des Lichts interessiert, für die Beziehung zwischen Mensch und Licht. Dabei hatte ich das große Glück, eine Revolution mitzuerleben: nämlich die der Photonik und der Elektronik. Das eröffnete völlig neue Wege. Also habe ich zu Ernesto gesagt: Ihr solltet aufhören, Leuchten zu produzieren, und anfangen, Licht zu entwerfen.

Pilzartige und tragbare Leuchte
Pilzartige und tragbare Leuchte "Takku" von Foster + Partners Industrial Design.
Fotos: Artemide / Ph. Ferrari

STANDARD: Wie meinten Sie das?

De Bevilacqua: Design wird oft als Form wahrgenommen. Zu Unrecht, denn Form ist kein Selbstzweck, sondern Ausdruck technischer Grenzen und Möglichkeiten. Vor der Form kommt immer der Mensch und seine Umwelt. In meiner Arbeit ist die Form nur die Synthese, das Ergebnis der Konvergenz von technischer Innovation und eines anthropologischen Ansatzes. In den Neunzigern starteten wir eine Kampagne: "The Human Light". Sie stellte das Licht selbst und nicht das Produkt in den Mittelpunkt. Unser Ziel war es, den Menschen zum Autor seiner Umwelt zu machen. Wie in diesem schönen Satz des japanischen Schriftstellers Tanizaki Jun’ichiro: "Schalten wir erst mal das Licht aus, dann sehen wir weiter."

STANDARD: Heißt?

De Bevilacqua: Wenn ich alles ausschalte, gibt es kein Licht. Nur Dunkelheit oder Schatten. Erst dann kann ich anfangen, den Raum zu entdecken und zu verstehen. Andernfalls werde ich vom Licht kolonisiert. Natürlich hat er das poetischer formuliert, aber die Essenz ist dieselbe. (Carlotta de Bevilacqua steht auf und schaltet die Leuchten im Zimmer aus, eine nach der anderen.) Spüren Sie das? Es ist wie bei der Meditation, nur dass Sie hier mit einer visuellen Stille beginnen. Und dann schalten Sie die Leuchten wieder an, alle nacheinander. Sie lernen, Ihrer Umgebung mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

STANDARD: Sie arbeiten gern mit großen Architekten wie Jean Nouvel, Norman Foster oder Neri & Hu zusammen. Warum?

De Bevilacqua: Es gibt keinen Raum ohne Licht und kein Licht ohne Raum. Kaum jemand versteht das so gut wie Architekten. Sie betrachten Licht im räumlichen und humanistischen Kontext. Sorgen für das Wohlbefinden der Menschen. Dafür, dass man sich einem Raum zugehörig fühlt. Ich finde, jeder hat ein Recht auf gutes Licht. Manchmal rücken die Entwürfe der Architekten bei der Gestaltung in den Hintergrund, andere Male sind sie wahre Showstopper. Das ist das Talent der großen Architekten.

Installation zum Thema
Installation zum Thema "Alphabet of Light", auf das man bei Artemide besonders stolz ist. Wurde gemeinsam mit BIG entworfen.
Fotos: Artemide / Ph. Ferrari

STANDARD: Von all Ihren Projekten – haben Sie einen Lieblingsentwurf?

De Bevilacqua: Ich bitte Sie. Sie fragen doch eine Mutter nicht, was ihr liebstes Kind ist! (lacht) Aber gut: Besonders stolz bin ich auf "Alphabet of Light", einen unserer Bestseller, den wir in Zusammenarbeit mit dem dänischen Architekturbüro BIG entworfen haben. Ein bisschen wie eine unendliche Leuchtstoffröhre, wenn Sie so wollen, nur dass Sie keine Verbindungen sehen. Es hat ganz schön lange gedauert, bis alles so funktioniert hat, wie wir es uns vorgestellt haben. Das Licht wird gewissermaßen über eine Fuge geleitet, sodass Sie, wenn Sie ein Element mit dem anderen verbinden, die Fuge nicht mehr sehen. Die Leuchte sieht zwar total simpel aus, enthält aber bahnbrechende optoelektronische und mechanische Innovationen.

STANDARD: Klingt so, als bräuchten Sie gar kein ­Physikstudium mehr?

De Bevilacqua: Ich habe mir vieles angeeignet oder mit großer Demut erklären lassen. Und ich lese viel zu den Themen Soziologie und Physik, weil diese Bücher mir helfen, das Leben besser zu verstehen. Tag für Tag ziehe ich Bilanz und frage mich, was ich der Menschheit hinterlassen werde. Ein Studium ist nicht so wichtig, wenn Sie Ihrem Leben einen Sinn geben. Man muss neugierig sein, einfühlsam und bescheiden. Design bedeutet für mich, Verantwortung für unsere gemeinsame Zukunft zu übernehmen. Deshalb finde ich es wichtig, Licht nicht nur aus der gestalterischen Perspektive betrachten, sondern als etwas, das in der Lage ist, Energie in etwas Sinnstiftendes zu übersetzen. (RONDO, Florian Siebeck, 5.10.2023)