Der russische Präsident Wladimir Putin.
Ob Putin (Bild), Vučić oder Aljjew: Appeasement-Politik erzeugt nur neue Begehrlichkeiten.
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Wir erleben gerade eine historische Umwälzung in Europa. 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der "sozialistischen" Imperien und Vielvölkerstaaten, nach dem Aufbrechen ebenjener Imperien kommt eine zweite Welle: Die ungelösten (territorialen und ethnischen) Konflikte von damals brodeln wieder hoch.

Die furchtbarste Entwicklung ist zweifellos, dass der russische Imperialist Wladimir Putin die Ukraine wiederhaben will und deswegen einen verbrecherischen Krieg angefangen hat. Aber geistesverwandte Despoten wie etwa der aserbaidschanische Autokrat Ilham Alijew nutzen die Gunst der Stunde, um eine ethnische Säuberung in der armenischen Enklave Bergkarabach durchzuführen; es ist zu befürchten, dass er auch ein Stück Armenien selbst abtrennen wird.

Auf dem Balkan treibt der serbische Nationalist Aleksandar Vučić sein Spiel, den überwiegend von Serben bewohnten Nordteil des Kosovo mit Drohungen und Attacken krimineller Banden für eine Abspaltung und die Vereinigung mit dem "Mutterland" vorzubereiten. Im serbisch besiedelten Teil Bosnien-Herzegowinas arbeitet der Nationalist Milorad Dodik ebenfalls an "Heim ins Reich" Serbien.

Das sowjetische Imperium löste sich 1991 auf, die alten Sowjetrepubliken wurden unabhängig. Auch deswegen, weil die Sowjetunion und vor allem auch das alte Russland ein riesiger Vielvölkerstaat war. Russland hatte schon früh Sibirien erobert. Im 19. Jahrhundert kassierte das Zarenreich unter blutigen Kämpfen und Massakern den Kaukasus und die zentralasiatischen Khanate. Das halbe Polen und ganz Finnland gehörten auch dazu. Stalin dehnte das Reich dann noch auf die 1940 einverleibten baltischen Staaten und auf die osteuropäischen Staaten als Vasallen aus.

Offene Gebietsforderungen

Jugoslawien, eine Schöpfung des Ersten Weltkriegs, ebenfalls ein Vielvölkerstaat, zerfiel auch 1991 in furchtbaren Kämpfen zwischen Serben und den meisten anderen, die von der serbischen Dominanz genug hatten. Die Nato setzte dem serbischen Völkermord in Bosnien und im Kosovo ein Ende. Aber es sind eben noch Gebietsforderungen offen.

Putin, den man fälschlich für einen vernünftigen Mann gehalten hatte, begann sehr bald, territoriale Korrekturen anzubringen. Die Tschetschenen, die wegwollten, schlug er in einem ultrabrutalen Krieg 2000 nieder. 2008 trennte er von Georgien, einem unabhängigen Staat, die Provinzen Südossetien und Abchasien gewaltsam ab. 2014 waren die Krim dran und die ukrainischen Ostgebiete.

Auch deswegen ist es so unendlich wichtig, dass Putin in der Ukraine seinen Krieg der Revanche und Restauration nicht gewinnt. Wobei er ja seinen Einfluss auf ganz Europa ausdehnen will. Das war historisch immer die russische Politik: keine Reformen im Inneren, dafür Expansion nach außen.

In der EU und der Nato hat man das halbwegs begriffen. Jede Appeasement-(Beschwichtigungs-)Politik gegenüber Putin erzeugt nur neue Forderungen. Ähnliches gilt für den serbischen Autokraten Vučić. Das Prinzip heißt "Eindämmung". (Hans Rauscher, 3.10.2023)