Dieser Text wurde am 5. Oktober um zwölf Uhr fertiggestellt. Er wird auch nicht mehr upgedatet. Das ist Absicht, denn es soll eine Momentaufnahme werden.

Menschen, die sich heute Vormittag über das aktuelle Geschehen im Internet informiert haben, haben davon erfahren, dass der Bundesvorsitzende der deutschen AfD, Tino Chrupalla, am Mittwoch während einer Wahlkampfveranstaltung in Ingolstadt ins Krankenhaus eingeliefert wurde.

Wenn Interessierte diese Nachricht auf deutschsprachigen Medienportalen wie denen von "Zeit", "Stern", "Spiegel", "Welt" oder "Standard" gelesen haben, erfuhren sie zu diesem Vorfall bis Mittag des heutigen Tages folgende Details: Der Sprecher der AfD spricht von einem Angriff auf Chrupalla, es ist von einer "Einstichstelle" die Rede. Eine Parteikollegin Chrupallas, die vor Ort war, sagte, Chrupalla habe Selfies mit "jungen Leuten" gemacht und anschließend "über Stiche geklagt“. Die Staatsanwaltschaft Ingolstadt hat Ermittlungen wegen des Anfangsverdachts der Körperverletzung eingeleitet. Beschuldigte gebe es bislang keine, das Verfahren richte sich noch gegen unbekannt.

"Fakten zum Fall"

Wenn man sich abseits der Nachrichtenseiten informiert, stellt sich der Fall wie folgt dar. In Österreich weiß zum Beispiel der ehemalige FPÖ- und BZÖ-Politiker und rechtspopulistischer Publizist Gerald Grosz Folgendes (Zitat von seinem Account, dem auf X, vormals Twitter, rund 50.000 folgen): "Fakten zum Fall Chrupalla: 1. er wurde notfallmedizinisch versorgt 2. der Presseoffizier sprach von einem anaphylaktischen Schock, den Chrupalla erlitt 3. zwei Personen wurden von der Polizei festgenommen 4. die Spurensicherung hat zwischen den Pflastersteinen vor Chrupallas Autotür eine 2cm lange Nadel gesichert, fotografiert, aufgenommen. Die Bayrische Polizei sollte faktengetreu informieren!", schreibt Grosz. Er spricht auch von "Gewalt" und "Meinungsdiktatur".

1,2 Millionen Leserinnen

Noch mehr Details teilt die rechtsextreme Publizistin und Aktivistin Eva Vlaardingerbroek mit ihren 593.088 Followern auf X, vormals Twitter, mit (hier aus dem Englischen übersetzt): "Tino Chrupalla, der Ko-Vorsitzende der 'Alternative für Deutschland' (der einzigen 'echten' rechten Partei in Deutschland), wurde nach einem Attentat mit einer Spritze ins Krankenhaus eingeliefert, bevor er heute auf einer Wahlkampfveranstaltung in Bayern sprechen sollte." Das haben bis 1,2 Millionen Menschen (einige Bots sind wohl auch dabei) bisher gelesen.

Die Niederländerin erzählte in ihren Post außerdem von zwei weiteren Vorfällen: „Ein weiterer mutmaßlicher Mordanschlag auf seine Ko-Vorsitzende, Alice Weidel, wurde kürzlich vereitelt. Die Behörden hatten sie am vergangenen Wochenende aus ihrer Wohnung geholt, um ihre Sicherheit zu gewährleisten. Vor einigen Wochen wurde Andreas Jurca, ein weiterer Politiker derselben Partei, ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er bei einem organisierten Angriff auf sein Leben von einer Gruppe von Migranten, die ihn erkannt hatten, zu Brei geschlagen worden war.“

Bisher gesicherte Informationen

Was im Falle von Weidel bisher gesichert bekannt ist: Am Tag der Deutschen Einheit blieb AfD-Chefin Alice Weidel einer Wahlkampfveranstaltung fern: Wegen eines Vorfalls sei sie "an einen sicheren Ort verbracht" worden, hieß es seitens der AfD. Sie wurde währenddessen mit ihrer Partnerin und den Kindern auf Mallorca gesichtet.

Im Falle Jurca, der im vergangen August nach eigenen Aussagen nachts überfallen und zusammengeschlagen worden war, ist der Ermittlungsstand bisher folgender: Laut Polizei wurden vergangene Woche Wohnungen von zwei Männern durchsucht sowie deren Handys beschlagnahmt. Auch das Handy eines Begleiters von Jurca habe man sichergestellt.

Informationsvielfalt

Seitdem Informationen in großer Menge immer und überall von allen Internetnutzer abrufbar sind, unterscheidet sich der Informationsstand der einzelnen Menschen wesentlich voneinander. Das hat sich mit dem Erfolg der sozialen Medien noch verstärkt. Das ist eine Entwicklung, die per se nicht negativ ist. Im Gegenteil: Informationsvielfalt ist für eine Demokratie unabdinglich.

Doch die derzeitige Entwicklung in Europa ist alarmierend. Rechte und rechtsextreme Portale, Meinungsmacherinnen und Influencer sprechen zu einer großen Followerschaft und konkurrieren dabei mit klassischen journalistischen Quellen, ohne dabei journalistische Mindeststandards, wie Faktencheck oder Trennung von Meinung und Bericht zu beachten.

"Eine klare Kriegserklärung"

Was sich gerade zusammenbraut, kann man im letzten Drittel des reichweitenstarken Postings der Rechtsextremistin Eva Vlaardingerbroek gut beobachten. Nachdem sie über die Vorfälle berichtet hat, schließt sie ihr Posting folgendermaßen: „All dies ist äußerst schockierend, aber nicht überraschend. Es ist das Ergebnis der extrem feindseligen Darstellung, die von den Medien und dem Establishment in Bezug auf rechte Politiker und Andersdenkende geschaffen wird. Es erinnert mich an das, was 2002 in den Niederlanden geschah, als der Klimaaktivist Volkert van der Graaf dem rechten Politiker Pim Fortuyn am helllichten Tag in den Kopf schoss. Van der Graaf – wohlgemerkt – läuft bereits wieder frei auf den Straßen herum. Wir müssen uns klarmachen, wie ernst die Lage für uns Rechte in Westeuropa ist. Wir haben es mit einem Feind zu tun, der uns für unsere politischen Überzeugungen töten will und bereit ist, dies auch zu tun. Diese Attentate sind eine klare Kriegserklärung an die europäische Rechte. Und das ist erst der Anfang.“

Das ist ein öffentlicher Post, abseits von einschlägigen Parteimedien, Youtube und Telegram-Kanälen. Dort, wo immer mehr Mensch glauben, die einzigen unabhängigen und zuverlässigen Informationen zu bekommen, ist das Gerede vom Krieg schon längst eine Alltäglichkeit. (Olivera Stajic, 5.10.2023)