Sebastian Kurz, Karl Nehammer
Bundeskanzler Nehammer mit Vorvorgänger Kurz: In der Regierung mit den Grünen trug die ÖVP manche Aufbesserung von Sozialleistungen mit. Trotzdem bietet sie der Opposition Angriffsflächen.
Heribert Corn

Der Bundeskanzler genießt die Heimat. Adjustiert mit Rucksack und kariertem Wanderhemd, labt er sich an einer Quelle kristallklaren Gebirgswassers. "Österreich. Hier geht’s uns gut", hatte Wolfgang Schüssel 2006 auf sein Wahlplakat schreiben lassen. Ein paar Wochen später war er abgewählt.

17 Jahre danach geht wieder ein Regierungschef aus der ÖVP vergeblich mit einer Freudenbotschaft hausieren. "Wir leben in einem der besten Länder der Welt, haben die Kaufkraft erhalten", sagte Karl Nehammer bei seinem berüchtigten Auftritt vor Funktionären in Hallein, "ich kann das hundertmal erzählen, es ist jedem wurscht." Der Ärger darüber trieb den Kanzler zu jenem Satz, den ihm Kritiker als fatale Empfehlung auslegen: Wer wenig Geld habe, könne bei McDonald’s ja Burger und Pommes um 3,50 Euro essen.

Die Opposition freut sich über ein gefundenes Fressen. Seine eigenwillige Armutsanalyse wird Nehammer noch unzählige Male um die Ohren fliegen, zumindest bis zum nächsten Wahltag: Der Vorwurf der sozialen Kälte holt die ÖVP wieder einmal ein.

Urangst der ÖVP

Auch das verbindet Nehammer mit Schüssel. Allerdings hatte sich der älteste noch lebende ÖVP-Kanzler, der ab 2000 mit der FPÖ regierte, diesen Ruf nicht bloß mit flapsigen Worten eingehandelt. Schüssel ließ seinen Finanzminister Karl-Heinz Grasser ein Nulldefizit durchdrücken, für das – so das Urteil des damaligen Wifo-Chefs Helmut Kramer – die kleinen Leute die Zeche zahlten. Er führte eine vor allem symbolisch verhängnisvolle Gebühr für den Besuch von Spitalsambulanzen ein, legte die Hardcore-Variante einer Pensionsreform vor, die erst nach Massendemos entschärft wurde. Die Arbeitslosenquote kletterte unter der Regentschaft des Sparkurs-Predigers stetig nach oben.

Die SPÖ nützte das weidlich aus. Die rote Kampagne fiel derart konsequent aus, dass Schüssel nicht mehr alle Kritik vom Tisch wischen konnte. Ja, die Arbeitslosigkeit habe einen Rekordwert erreicht, räumte er Anfang 2006 ein, doch das gelte auch für die Beschäftigung. Die Wählerinnen und Wähler sahen das Glas am Ende allerdings halbleer statt halbvoll.

Dass es wirklich das Image der sozialen Kälte war, das den Pionier der schwarz-blauen Koalition aus dem Amt hob, hält der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik für nicht gesichert: "Das ist eine jener Legenden der Innenpolitik, die nie jemand wirklich empirisch belegt hat." Doch überzeugt – und das sei entscheidend – habe diese Erklärung allemal: "Die ÖVP glaubt, dass es so war. In der Partei gibt es eine Urangst, diese Punze wieder aufgedrückt zu bekommen."

Sebastian Kurz, Wolfgang Schüssel
Beim Parteitag im Mai 2022 feierte das türkise Parteivolk den ehemaligen Kanzler Wolfgang Schüssel. Doch seine einstige Abwahl habe die ÖVP bis heute nicht losgelassen, sagt der Politologe Laurenz Ennser-Jedenastik.
Heribert Corn

Zu bemerken war das beim Antritt des nächsten eigenen Regierungschefs. Gezielt verpackten Sebastian Kurz und sein blauer Vizekanzler Heinz-Christian Strache in ihre Antrittsinterviews die Ankündigung, Kleinverdiener von Sozialversicherungsbeiträgen zu entlasten und die Mindestpension für Menschen mit vielen Arbeitsjahren zu erhöhen. Zu einem dankbaren Gegner entwickelte sich der ideologisch flexible Shootingstar aus Sicht der Sozialdemokraten nicht.

Zwar erfüllte Kurz das Klischee des Erfüllungsgehilfen für Großspender, indem er zugunsten von Konzernen die Körperschaftssteuer massiv herunterschraubte – aber ebenso wurden Lohn- und Einkommensteuer in einer Manier gesenkt, an der selbst die Arbeiterkammer wenig auszusetzen hatte. Der ebenfalls umgesetzte Familienbonus birgt die soziale Schwachstelle, erst ab der Mittelschicht aufwärts voll zu wirken; doch der daran gekoppelte Kindermehrbetrag bringt Kleinverdienern eine gewisse Entlastung. Das Reizwort Pensionsreform strich Kurz entgegen der langjährigen Praxis aus dem ÖVP-Vokabular. Stattdessen trug er bereitwillig jährliche Pensionserhöhungen über das Ausmaß der Inflation hinaus mit.

Sozialabbau für Zuwanderer

Das bedeutet nicht, dass die türkis-blaue Zeit keine sozialen Härten mit sich brachte. So hatte Kurz eine bestimmte Zielgruppe im Auge, als er die Mindestsicherung aushöhlte: Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, und da speziell Asylberechtigte, sind unter den Beziehern dieser sozialen Nothilfe massiv überrepräsentiert.

Zusammenstreichen ließ er auch die Familienbeihilfe für Eltern, deren Kinder im Ausland leben, sowie Arbeitsmarktprogramme für Ältere und wiederum Flüchtlinge. Die nach ÖVP-Lesart braven Werktätigen bekamen als Begleitmusik Slogans wie "Wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein" serviert.

Der Absturz blieb aus

Und heute? Nachdem der Verfassungsgerichtshof die Kurz’schen Einschnitte zu einem Gutteil rückgängig machte, propagiert die ÖVP abermals, Sozialleistungen für Zuwanderer zu kürzen. Doch tatsächlich hat die nun türkis-grüne Regierung unter dem Eindruck von Corona- und Teuerungskrise für die kleinen Leute bis dato einiges Geld lockergemacht.

So passt der Staat endlich Familienbeihilfe, Kindergeld und andere Sozialleistungen, für die das noch nicht galt, jährlich an die Inflation an; beim Arbeitslosengeld weigert sich die ÖVP beharrlich. Die Regierung besserte die Mindestpension auf und schüttete Sonderhilfen für "vulnerable" Gruppen aus. Selbst die von Kurz verhängte Einschränkung der Sozialhilfe, vormals Mindestsicherung, wurde ein Stück weit kompensiert.

Dass deshalb in Österreich, wie Generalsekretär Christian Stocker sagt, trotz Krisen niemand in existenzielle Nöte geraten sei, ist eine kühne Behauptung. Doch selbst kritische Geister wie Martin Schenk von der Armutskonferenz attestieren eine weitgehend stabile Lage. Einkommensdaten und Befragungen legen im Groben folgendes Bild nahe: Es gibt genügend Menschen, denen es schlechter geht als zuvor. Ein breiter sozialer Absturz aber hat nicht stattgefunden.

Wer hat's erfunden?

Da drängt sich die Frage auf: Wäre all das auch ohne Grüne in der Regierung so gekommen? Aus Perspektive des Koalitionspartners liegt die Antwort auf der Hand. Klubchef August Wöginger, sozialpolitisches Mastermind der ÖVP, sei zwar diesbezüglich der mit Abstand aufgeschlossenste Türkise, sagt der grüne Sozialsprecher Markus Koza. Dennoch habe es eines harten Kampfes gegen Widerstand bedurft, um die Verbesserungen durchzusetzen – und auch manchen Abtausches.

Die Valorisierung der Sozialleistungen hätten die Grünen erzwungen, indem sie sonst die für die kleinsten Einkommen unbedeutende Abgeltung der kalten Progression verweigert hätten, berichtet Koza. Das heurige Paket gegen Kinderarmut habe monatelanges Drängen benötigt, ehe der öffentliche Druck zu groß geworden sei. Schlagzeilen à la "Regierung versagt beim Kampf gegen Armut" (Krone) hätten den letzten Anstoß gegeben.

Zwei soziale Welten

Die Koalitionsparteien trennt dabei Grundsätzliches. Während die Grünen Armut als ein von den gesellschaftlichen Umständen gespeistes Phänomen verstehen, das es mit umfassenden Leistungen zu bekämpfen gelte, betont die ÖVP das Prinzip der Eigenverantwortung – und warnt mitunter wörtlich vor der "sozialen Hängematte", in die zu üppige Hilfen führten. Dahinter stecke nicht bloß gezielte Stimmungsmache, sondern echte Überzeugung, glaubt Koza: "Das ist ein konservatives Verständnis von Leistung."

Das soziale Netz solle nur jene auffangen, die es wirklich nicht allein schafften, erläutert der ÖVP-Mann Stocker. Weil die Mindestsicherung trotz der bestehenden Verpflichtung zur Arbeitssuche nicht gegen Missbrauch gefeit sei, schaue man eben genau hin. Ob die von Kurz verhängten Kürzungen nicht gerade in der Krise massenhaft Menschen bestraften, denen es am Können statt am Wollen fehlt? Man habe für diese Gruppen ja viel anderes getan, sagt Stocker.

Die Frage nach der Urheberschaft nennt der Generalsekretär "kindisch". Eine Regierung beschließe Maßnahmen immer gemeinsam, das gelte auch für die sozialen Verbesserungen: "Hätten wir sie nicht gewollt, wären sie nicht gekommen."

Nicht nur Besserverdienerpartei

Aber ist die ÖVP an sich nicht einer ganz anderen Klientel verpflichtet? Politologe Ennser-Jedenastik warnt vor dem einseitigen Bild der Besserverdienerpartei: Nach kaum einem anderen Kriterium seien die Wählerinnen und Wähler so gut in den Parteien durchmischt wie nach dem Einkommen.

Überhaupt müsse man bei der Debatte die Kirche im Dorf lassen. Die auf die ÖVP gemünzte "soziale Kälte" sei ebenso ein Kampfbegriff wie der ewige Vorwurf an die SPÖ, nicht wirtschaften zu können. Die Geschichte lehre, dass es in der Partei neben dem wirtschaftsliberalen Flügel stets auch Verfechter der christlichen Soziallehre gegeben habe. Die ÖVP stelle nicht nur große Teile des Sozialstaates nicht infrage, sagt Ennser-Jedenastik: "Sie hat ihn über Jahrzehnte auch mit aufgebaut." (Gerald John, 7.10,2023)