Man wird lange über die möglichen politischen Kalkulationen hinter dem selbstmörderischen Angriff der terroristischen Banden der Hamas auf Israel diskutieren müssen. Die zu allem entschlossenen Strategen des überraschenden und deshalb erfolgreichen Angriffs wussten, dass Israels vernichtende Gegenschläge aus der Luft und wahrscheinlich über Land im Gazastreifen mehr Opfer fordern würden als ihre niederträchtigen mörderischen Überfälle auf wehrlose Menschen in Israel. Sie wollten aber, offensichtlich in Zusammenarbeit mit dem Iran, die Normalisierung der Beziehungen Israels – nach Vereinbarungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko – auch mit Saudi-Arabien, dem wichtigsten Staat in der Region, torpedieren. Wenn infolge der Luftangriffe und möglicherweise einer Bodenoffensive Israels tausende Palästinenser sterben, könnte das perfide Kalkül aufgehen.

Ein Bild der Zerstörung: Raketeneinschläge in Tel Aviv.
EPA/ABIR SULTAN

Die erschütternden Bilder der menschenverachtenden Barbarei im Netz sind unvergesslich. Die Selbstverteidigung Israels, der einzigen Demokratie in der Region, ohne Wenn und Aber soll jetzt die Devise sein. Der Terror der Hamas lässt sich nicht relativieren, auch nicht durch das Treiben der 400.000 Siedler in den besetzten Gebieten. Den Terroristen und ihren Hintermännern geht es nicht um das Los der Palästinenser, sondern um die Vernichtung des jüdischen Staates.

Man darf aber selbst in diesen schrecklichen Tagen für Israel nicht verschweigen oder verdrängen, dass es Benjamin Netanjahu war, der mit der Bildung seiner ultrarechten und ultranationalistischen Regierung den Weg von der Gefährdung der Demokratie zur Gefährdung des Staates Israel eingeschlagen hat. Die monatelangen Demonstrationen von Hunderttausenden gegen seinen verhängnisvollen Kurs waren eindrucksvolle Beispiele einer lebendigen Demokratie, zugleich aber auch eine Einladung an die vielen Feinde des Landes. Auch das Militär und der Sicherheitsapparat waren geschwächt. Vergeblich hatten Freunde Israels, auch in dieser Kolumne, vor den unabsehbaren Folgen gewarnt (siehe "Netanjahu, Israel und die Juden", DER STANDARD, 27.12.2022).

Politisches Erdbeben

Heute muss Israel im Zeichen der nationalen Einheit mit den von grenzenlosem Hass getriebenen Feinden abrechnen. Es gibt aber auch Gefahren an den Grenzen zum Libanon (Hisbollah-Milizen) und im Inneren des Landes. Das Versagen von Militär und Geheimdienst hat einen Schock der Verwundbarkeit ausgelöst, der noch lange nachwirken wird.

Auch wenn die Hamas militärisch verlieren wird, eine Lösung für den Gaza-Konflikt, wie auch für die Palästinenserfrage, kann aber nur politisch erreicht werden. Unabhängig vom Los der Palästinenser gibt es auch keinen Frieden in der Nachbarschaft.

Das politische Erdbeben im Nahen Osten wirft einen Schatten auch über die Ukraine angesichts der Priorität der Sicherheit Israels in der US-amerikanischen Außenpolitik. Je länger der Krieg gegen die Hamas dauern wird, umso schneller schwinden die Chancen der Ukraine auf die US-Rüstungshilfe in unverändertem Umfang.

Vor dem Hintergrund von zwei Kriegen und Spannungen von Kosovo bis Armenien gilt wieder das Brecht-Wort: Wir leben "in finsteren Zeiten" (An die Nachgeborenen). (Paul Lendvai, 9.10.2023)