Brücken zwischen Überfluss und Bedarf: Verfestigen sie Armut, oder haben sie gesellschaftlichen Mehrwert?
Wiener Tafel

Lässt sich mit 3,50 Euro Kindern täglich eine warme Mahlzeit finanzieren? VP-Bundeskanzler Karl Nehammer empfahl ihnen Burger und Pommes bei McDonald’s.

Sein Rat sei ein Schlag ins Gesicht armutsgefährdeter Familien; er sei aber auch inhaltlicher Humbug, sagt Wilhelm Raber, Geschäftsführer der Stadtdiakonie Wien. Für die besagten 3,50 Euro stelle die Diakonie einem Schulkind eine ganze Woche lang eine Jause zur Verfügung.

15.000 Euro brauche es, um 250 bis 400 Menschen, die unter Armut und Ausgrenzung leiden, täglich über ein Jahr lang ein dreigängiges Menü zur Verfügung zu stellen, sofern gespendete Lebensmittel dabei unterstützen, rechnet Raber vor.

Wie das geht, leben Institutionen wie das Wiener Wirtshaus Häferl, vor, das unter dem Dach der Diakonie arbeitet. Es sind Menschen am Rande der Gesellschaft, die hier Essen und Ansprache finden. Wobei sich zusehends Familien, aber auch Kinder unter den Gästen finden, erzählt Raber. "Das schockiert uns."

Türöffner für Sozialarbeit

Das Gasthaus gebe Menschen einen sozialen Raum, von dem sie ansonsten oft ausgegrenzt würden. "In Geld lässt sich so etwas nicht messen." Vertrauen in helfende Hände werde über lange Zeiträume aufgebaut. Zum Essen kämen Menschen, die von sich aus nie reguläre soziale Anlaufstellen aufsuchen würden.

Versorgt wird die Diakonie von der Tafel Österreich, die genusstaugliche Lebensmittel vor der Entsorgung rettet und über soziale Einrichtungen kostenlos weitergibt.

Es seien Planbarkeit und Verlässlichkeit der Lieferungen, die es dem Häferl erlaubten, die Menüpläne flexibler zu gestalten und Gäste mit Speisen zu versorgen, die nicht nur sattmachten, sondern auch Freude bereiteten, zieht Raber Bilanz.

17,5 Prozent der österreichischen Bevölkerung sind armutsgefährdet. 23 Prozent unter ihnen sind der Statistik Austria zufolge Kinder und Jugendliche. Fast acht Prozent konnten sich heuer nur jeden zweiten Tag eine Hauptmahlzeit leisten. Knapp neun Prozent bringen die Kosten für Miete und Betriebskosten nicht auf.

Stark gestiegene Nachfrage

Die Nachfrage nach Lebensmitteln sei bei der Tafel Österreich 2022 innerhalb eines Jahres um 4o Prozent gestiegen, sagt ihre Chefin Alexandra Gruber. Doch wie wirken Initiativen wie die Tafel wirklich? Versprechen sie über monetäre Effekte hinaus gesellschaftlichen Mehrwert? Oder riskiert der Sozialstaat damit, Armut zu verfestigen?

Die Wirtschaftsuni Wien hat die soziale Wirkung der Lebensmittelhilfe erstmals wissenschaftlich vermessen. Das Ergebnis der Erhebungen: Es geht um mehr als nur Essen.

Wahlfreiheit

Geld zu sparen, das man für andere notwendige Dinge braucht, und Wahlfreiheit zu haben, um sich auch am Ende des Monats ausgewogener zu ernähren als nur von Toast und Butter, sind laut Studie das eine.

Das andere sind Themen wie Arbeits- und Wohnungssuche, Konfliktbewältigung und Sucht, die sich erst bearbeiten lassen, wenn Grundbedürfnisse gestillt sind. Die Lebensmittelhilfe sei ein Türöffner für Sozialarbeit, ist Studienautor Christian Grünhaus überzeugt.

Sie entlaste die Sozialeinrichtungen nicht nur ökonomisch und zeitlich, sondern diene als Hebel für zusätzliche Hilfen, die in Anspruch genommen werden könnten, um Wege aus der Not aufzuzeigen.

Niederschwelliger Zugang zu Lebensmitteln sorge für regelmäßige Kontakte zu Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen seien. Die Möglichkeit eines Gesprächs ergebe sich oft erst durch die Einladung zu einer Mahlzeit.

Weniger Spenden aus dem Handel

Die Tafel Österreich bewahrt dieses Jahr voraussichtlich 1000 Tonnen Lebensmittel vor dem Verfall. Es ist überschüssiges Obst und Gemüse ebenso wie Ware mit Fehletikettierung oder kurzer Ablauffrist. Spenden aus Supermärkten werden versiegen, ist sich Gruber sicher, da diese mittels künstlicher Intelligenz immer exakter planen. Die Tafel arbeite daher verstärkt direkt mit der Landwirtschaft und Produzenten zusammen. Ziel sei es, Hilfe über Wien hinaus bundesweit anzubieten. (Verena Kainrath, 14.10.2023)