Wohnhaus in Bosnien mit Einschusslöchern
Manche Gebäude tragen noch Spuren vom Krieg von vor 30 Jahren. In der Tech-Szene im Land tut sich aber sehr viel.
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Der Werdegang von Ivana Gudalo in ihrem Land ist ungewöhnlich. Als ausgebildete Softwareingenieurin ist sie anders als ihre Studienkolleginnen und -kollegen in Bosnien geblieben. Die Entscheidung kam auch für sie überraschend, erzählt Gudalo in einem Besprechungsraum ihres Arbeitgebers TTTech in Banja Luka. Die Stadt liegt inmitten der serbischen Teilrepublik Srpska im Norden von Bosnien. Während hier eher Menschen mit serbischer Identität leben, sind es im Rest des Landes bosnische oder kroatische Menschen. Ihren Master wollte Gudalo ursprünglich in Westeuropa absolvieren und auch im Ausland Karriere machen.

"Dein Umfeld hier vermittelt dir, es gäbe kaum Perspektiven", erzählt sie, "also glaubst du das." Bis dann aber Vertreter von TTTech in ihrer Universität in Banja Luka standen. Das Spin-off der Technischen Universität Wien expandierte bereits vor Jahren nach Osteuropa, darunter Serbien, Bosnien und Rumänien. Um nachhaltig Angestellte zu finden, müssen sie aktiv an der Universität suchen. Gudalo passte sehr gut: Sie war IT-Studentin und suchte Aufstiegschancen. "Mir wurde dann klar: Ich kann mich auch in Bosnien verwirklichen."

Ivana Gudalo, angestellt bei TTTech als Softwareingenieurin
Ivana Gudalo ist seit mehreren Jahren bei TTTech als Softwareingenieurin angestellt und lehrt gleichzeitig an der Fakultät für Technologie in Banja Luka.
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Ivana Gudalo schlug also einen anderen Weg ein als die meisten in ihrem Alter. Politische Korruption, organisierte Kriminalität, Konflikte zwischen Volksgruppen und Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Sektor sind treibende Kräfte für die Abwanderung Junger aus Bosnien. Seit Jahrzehnten schrumpft die Bevölkerung stark. Der Braindrain, also die Abwanderung junger, gebildeter Menschen, ist stärker als in den meisten Gebieten der Welt.

Mehr als die Hälfte weg

Die Auswirkungen sind spürbar: Die bosnische Bevölkerung soll bis 2070 um mehr als die Hälfte seit der letzten Hochrechnung 2013 schrumpfen. "Im Grunde exportieren wir Arbeitskräfte, weil die Ausbildung hier kostenlos ist", sagt Alen Gudalo. Er ist Projektkoordinator bei der Boris-Divković-Stiftung, einer NGO für die Verbesserung der politischen Situation Bosniens. "Der Staat finanziert die öffentlichen Universitäten, dann gehen diese Leute. Länder wie Deutschland und Österreich bekommen qualifizierte, ausgebildete junge Arbeitskräfte, die oft schon fließend Deutsch sprechen."

Boris Divkovic Foundation
Alen Gudalo (re.), Projektkoordinator der Boris-Divković-Foundation in Sarajewo im Büro mit Forschungsleiter Adi Skaljic und Zwergschnauzerin Lu.
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Gleichzeitig gibt es aber eine Gegenbewegung. Die Tech- und Start-up-Szene im Land erlebt einen Aufschwung und gilt als Hoffnung gegen den Braindrain. Jahr für Jahr steigen die Einkommen der IT-Unternehmen im Land um 25 Prozent, rund zwei Drittel der Beschäftigten sind unter 35 Jahre alt. In den letzten Jahren verdoppelte sich die Anzahl der Beschäftigten auf heute rund 8.500. Österreich ist dabei ein wesentlicher Akteur, hat aber eine Doppelrolle inne. Die meisten Jungen gehen nach Deutschland und Österreich – wegen der entwickelteren Techszene und der höheren Gehälter.

Erst vor einem Jahr erleichterte die Republik hierzulande die Arbeitsmigration mit der Rot-Weiß-Rot-Card, im ersten Quartal 2023 kamen doppelt so viele Fachkräfte wie das Jahr zuvor – hauptsächlich aus dem technischen Bereich. Und die meisten aus Bosnien. Die Republik lockt junge Bosniakinnen und Bosniaken an, während es in deren Land an Nachwuchs mangelt.

Suche nach Jungen

Das Beispiel TTTech zeigt, welchen Hebel Österreich haben kann. Umgeben von Einkaufszentren befindet sich die Firma im Herzen der Stadt und ist leicht zu verwechseln mit einem einfachen Wohnhaus. Fast jeder Raum auf zwei Stöcken ist gefüllt mit jungen Leuten, die zwischen haufenweise Kabeln, Nanochips und breiten Rechnern an digitalen Sicherheitstechnologien für Autos und Raumschiffen arbeiten. Sie müssten aber umziehen, erklärt Boško Milić, der Geschäftsführer der Niederlassung in Banja Luka: Es gebe zu wenig Platz für neues Personal und Projekte.

Die Strategie, mehr Junge für sich zu gewinnen, habe sich in Verbindung mit der Fakultät für Ingenieurwissenschaften in Banja Luka zu einem Geben und Nehmen entwickelt, erklärt er bei einer Besichtigung. "Wir helfen der Fakultät, wenn sie Equipment oder andere Dinge benötigt, und spenden diese", sagt Milić. "Wir bieten den Studierenden Stipendien und Workshops mit dem Ziel, sie sowohl an uns als auch an das Land zu binden." Rund 70 Prozent der Menschen in der Firma kommen aus der Fakultät. Ohne Firma keine Uni und ohne Uni keine Firma, also.

Hörsaal in der Fakultät für Technologie in Banja Luka
Ohne Unternehmen gäbe es für die Fakultät für Technologie in Banja Luka kaum Möglichkeiten, Modernisierungsmaßnahmen vorzunehmen.
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An diesem Tag führt einen der Geschäftsführer Milić auch direkt zum Institut, es ist ein paar Minuten Autofahrt entfernt von Firmenstandort. Dort zeigt sich, wie essenziell die Zusammenarbeit ist: Das Gebäude ist innen und außen in die Jahre gekommen – anders als die Hörsäle: sterile Wände, modernste Techniken für das Lehren und groß und breit ziehen sich die Logos der Firmen über die Wände, welche die Räume sponserten.

Spezielle Arbeitsmodelle

Von der Unterstützung profitiert auch die Angestellte Ivana Gudalo. Mit ihrem Arbeitsmodell ist sie zur Hälfte Softwareingenieurin, und zur Hälfte lehrt sie an der Fakultät. Die Gehälter für Lehrende allein sind zu niedrig, also finden sich meist keine Lehrpersonen, und ohne sie gibt es irgendwann keine Absolvierenden mehr. In der Republik Srpska verdienen Menschen im Schnitt 600 Euro im Monat. In der Tech-Industrie wie bei TTTech ist das Gehalt dreimal so hoch.

Die Firma ist aber nicht die einzige ursprünglich österreichische, die junge Menschen in Bosnien vor Ort beschäftigen will. Etwa eine Handvoll heimischer Tech-Firmen wären bereits nach Bosnien gegangen. Wegen des Fachkräftemangels im eigenen Land hätten immer mehr Interesse an einer Niederlassung, verrät die österreichische Wirtschaftsdelegierte in Sarajevo Martha Suda.

Nach dem Krieg waren traditionell Jobs im öffentlichen Sektor, etwa bei den großen Telekommunikationsunternehmen, in Bosnien beliebt, weil sie als sicher galten. Viele hätten aber keine Lust mehr, sich einem politisch korrupten System zu fügen, erklärt Koordinator der Boris-Divković-Stiftung, Alen Gudalo. Hinzu kämen die schlechte Bezahlung und kaum Urlaubstage. "Der private Sektor ändert sich mit der jungen Generation", sagt er. "Und gerade da spielt Entrepreneurship eine große Rolle."

Zwar gibt es bereits funktionierende Initiativen für Tech-Aus- und Weiterbildungen wie der große Co-Working-Space Hub387 und das "Ministry of Programming". Aber der große Gründerinnengeist sei noch nicht weit genug verbreitet, beobachtet etwa die Vizerektorin der Wirtschafts- und Handelshochschule? der Universität Sarajevo, Amila Pilav-Velić. An der Fakultät werde bereits seit langer Zeit Unternehmensgründung gelehrt, und vor sechs Jahren startete die Uni ihren ersten Inkubator für Start-ups.

Kaum Finanzmittel

Die Starthilfen sollen junge Menschen ermutigen, ihre eigenen Ideen zum Geschäft zu wandeln und so die Wirtschaft im Land ankurbeln – auch im Hinblick auf die EU-Integration. Dafür sei aber der Zugang zu Finanzmitteln noch recht schwierig, und auch das Rechtssystem für Gründerinnen und Gründer sei kaum ausgereift. Auch das Feld von Wagniskapitalgesellschaften und Business-Angels – Personen, die Start-ups mit Eigenkapital helfen – ist dünn. "Es gibt noch nicht genug Vertrauen in finanzielle Unterstützungen für Start-ups hier." Bisher kommt das meiste Geld für Starthilfen aus Botschaften, der EU, der Schweiz oder etwa den USA.

Bei etwas genauerem Hinsehen findet man auch wieder österreichisches Kapital, welches offenbar für die Neugründungen im Land eingesetzt wird. Zu finden sind Spuren davon etwa im Start-up-Studio Sarajevo. In einem weitläufigen Altbau-Apartment kommen junge Menschen mit ihren Ideen zusammen. Hier können sie arbeiten, sich austauschen oder Mentoren finden. Vesna Bajsanski-Agić ist die Geschäftsführerin der lokalen Start-up-Stiftung Mozaik für die Förderung junger Gründerinnen und Gründer, welche das Studio betreibt.

Start-up-Studio in Sarajewo
Start-up-Studio in Sarajewo.
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Narrativ ändern

"Wir wollen das Narrativ ändern, dass man in Bosnien scheitert", erklärt sie vor Ort. Dafür hat sie viel vor. Bis 2026 will Mozaik 50.000 junge Menschen mit unternehmerischen Fähigkeiten finden und in 500 soziale Unternehmen investieren. Jedes Jahr gibt es eine Million Euro Förderung und eine Million Euro in Investments in die Projekte oder Geschäftsideen junger Menschen. Auch hier kommt das Kapital dafür hauptsächlich aus dem europäischen Ausland. Unter anderem auch von der Erste-Stiftung.

Die rund 50.000 Euro sind zwar für ein Start-up allein kein nachhaltiges Kapital. Aber es sei eben eine von vielen Quellen für den Fonds von Mozaik, sagt Bajsanski-Agić. Auf Nachfrage, warum die Erste-Stiftung investiert, heißt es: "Neben neuen Möglichkeiten für die österreichische Wirtschaft wirkt soziale Stabilität im Raum Mittel- und Osteuropa immer auch positiv auf Österreich."

Eine Gründerin, die Geld aus dem Topf von Mozaik bekam, ist Lidija Sjedinović. Sie bietet Nachmittagsprogramme für Kinder berufstätiger Eltern. Sie erzählt, dass auch ihr Mann mit ihr ins Ausland gehen wollte, sie aber die Gründung versuchen wollte. Mit der Vernetzung und dem Geld der Stiftung kann sie sich nun eine Zukunft in ihrer Heimat vorstellen. Nur manchmal fährt sie nach Österreich. Denn ihr Masterstudium führte sie an die Wirtschaftsuni in Wien. (Melanie Raidl, 16.10.2023)