Das Schutzhaus Zukunft hat schon viel Vergangenheit auf dem Buckel. Sozialdemokratische Vergangenheit, wohlgemerkt. Im Roten Wien nach dem Ersten Weltkrieg inmitten der gleichnamigen Kleingartensiedlung als Vereinshaus erbaut, atmen seine großzügigen Säle mit ihren Holzböden und hölzernen Wandpaneelen, der große Gastgarten mit seinen alten Bäumen und Heurigenbänken immer noch das Flair von Arbeiterversammlungen und bescheidenen Sonntagsfreuden aus.

Bundeskanzler Karl Nehammer Armuts-Debatte mit Sozialorganisationen Schutzhaus Zukunft in Wien.
Eindreiviertel Stunden lang stand Karl Nehammer im Schutzhaus Zukunft Sozialvertretern Rede und Antwort.
© Christian Fischer

Freitagmittag jedoch war die Lokalität Ort einer Aussprache und gleichzeitig Inszenierung zu Armutsfragen mit christlich-sozialem Hintergrund. Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) lud Vertreterinnen und Vertreter von elf sozialen Organisationen sowie die Presse in den modernisierten Veranstaltungssaal des Schutzhauses, in dem sonst meist Musiker und Kabarettistinnen auftreten.

Video: "Frag den Kanzler" - Nehammer auf Versöhnungskurs
APA

Fachleute statt Armutsbetroffene

"Frag den Kanzler" hieß das erstmalige Format. Echte Armutsbetroffene waren unter den rund 50 anwesenden NGO-Leuten rar. Die Diakonie hatte Daniela Brodesser mitgebracht, die in ihrem Buch Armut den sozialen Absturz und das mühsame Sich-Wiederaufrichten ihrer Familie schildert. Am Tisch der St.-Elisabeth-Stiftung der Erzdiözese Wien saß Regina, eine alleinerziehende Frau.

Draußen im Schankraum rührte ein verspäteter Frühstücksgast in seiner Eierspeise. Fünf ältere Herrschaften um einen Tisch beobachteten bei einem Mittagsbier neugierig das Treiben. Drinnen im Veranstaltungssaal stellte sich Nehammer Fragen zur Armutsbekämpfung. Bei Broten, Saft, Würsteln, Kuchen und Kaffee versuchte er, sich der für ihn leidigen Hamburger-Affäre zu entledigen.

Burger "nicht das beste Beispiel"

Bundeskanzler Karl Nehammer Armuts-Debatte mit Sozialorganisationen Schutzhaus Zukunft in Wien.
Will Armen helfen, selbst Verantwortung zu übernehmen: Karl Nehammer. Manche Fachperson bezweifelt, dass das in einer Reihe von Fällen funktioniert.
© Christian Fischer

Nein, seine Aussage auf dem vieldiskutierten Video aus einer Funktionärsversammlung der ÖVP, dass Eltern für ihre Kinder um 1,40 Euro einen Hamburger kaufen und ihnen so ein warmes Essen bieten könnten, sei "nicht das beste Beispiel" gewesen, konzedierte der Kanzler gleich zu Beginn der von ÖVP-Abgeordneter Bettina Rausch-Amon professionell moderierten Fragerunde. Das Video sei aber auch verkürzend zusammengeschnitten worden. "In der längeren Neunminutenversion kommt klarer heraus, was ich meinte."

Was er habe festhalten wollen, sei, "dass Eltern für ihre Kinder verantwortlich sind". Die Eigenverantwortung nämlich sei für ihn als christlich-sozialer Politiker eines der Leitmotive. Diese Aussage wiederholte Nehammer in den folgenden eindreiviertel Stunden mehrfach. Als er gegen Ende der Veranstaltung auf die Fragen eines Mitarbeiters der Wiener Schuldnerberatung antwortete, kam besonders klar heraus, was er meint – und was seinen Ansatz etwa von jenem der SPÖ unterscheidet, die auf mehr Sozialstaat im Sinne großzügigerer Leistungen setzt.

Wer Schuld an der eigenen Armut hat

Seit Corona und dem Steigen der Energiepreise würden immer mehr Menschen in die Schuldenfalle geraten, sagte der Schuldnerberater. Um deren Lage zu verbessern, sei die Politik aufgerufen, die rigorosen österreichischen Lohnpfändungsregeln zu überdenken. "Das interessiert mich sehr, das nehmen wir mit!", antwortete der Kanzler direkt. Wichtig sei aber, zu unterscheiden, wer unverschuldet und wer auf eigenes Zutun in eine solche Lage geraten ist. Die Menschen müssten "zu einem sorgsamen Umgang mit Geld angehalten werden".

Bundeskanzler Karl Nehammer Armuts-Debatte mit Sozialorganisationen Schutzhaus Zukunft in Wien.
Der Kanzler suchte den Kontakt zu Vertretern und Vertreterinnen der Sozialorganisation, hier jenen der Elisabeth-Stiftung.
© Christian Fischer

Davor war es mehrfach um die heißen Eisen in der aktuellen Armutsdiskussion gegangen. Vor allem um die Sozialhilfe, die 2013 unter Türkis-Blau von einem bedarfsorientierten Modell zu einem mit Höchstsätzen operierenden System zusammengekürzt wurde. Auch mitsamt Zusatzzahlungen wie Wohngeld und Leistungen für die Kinder würden akut Armutsbetroffene – in Österreich zwischen 200.000 und 300.000 Menschen – nicht über die von der EU definierte Armutsgrenze von rund 1300 Euro monatlich kommen, sagte etwa eine Vertreterin der Arbeiterkammer Niederösterreich.

Zu viel Teilzeit, zu wenig Kinderbetreuung

Und zwar sogar dann, wenn sie einen Job ausüben, allermeist in Teilzeit. "Die Unternehmen haben sich vielfach an die Teilzeit gewöhnt. Sogar jungen Menschen ohne Sorgepflichten werden gleich nach ihrer Ausbildung Teilzeitjobs angeboten".

Das sei tatsächlich ein Problem, antwortete Nehammer, dem auch problematische Aussagen zu Frauen in Teilzeit in dem Video vorgeworfen werden. Zusammen mit der immer noch unzureichenden Kinderbetreuung, vor allem auf dem Land, dränge es besonders die Frauen in finanzielle Schieflagen. Um den Wirtschaftsstandort Österreich angesichts von Pensionierungswellen und daraus folgenden Personalnöten zu erhalten, müsse hier dringend umgedacht werden. Geld stehe zur Verfügung, aber, so der Kanzler: "Diese Änderungen brauchen Zeit." (Irene Brickner, 13.10.2023)