Helga Embacher
Helga Embacher (64) ist Professorin für Zeitgeschichte an der Paris-Lodron-Universität Salzburg und forscht zu Antisemitismus an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Foto: Michael Brauer

In Israel töteten Hamas-Terroristen über 1300 Zivilisten, darunter Babys und alte Menschen. In westlichen Städten feierten manche Muslime mit Hupkonzerten und Süßigkeiten. Wie kann das sein? Die Historikerin Helga Embacher spricht über Judenhass in muslimischen Communitys, Antisemitismus in rechten sowie in linken Kreisen und darüber, was ihn von Kritik an Israel unterscheidet.

STANDARD: Haben Sie die antiisraelischen Bekundungen im Westen kurz nach dem Terror in Israel überrascht?

Embacher: Nein, ich war überhaupt nicht überrascht. Die Reaktionen und Slogans gleichen jenen nach dem 9/11-Anschlag und insbesondere während der Gaza-Kriege von 2009 und 2014: Verschwörungserzählungen, bei denen schnell Antisemitismus hineinspielt, und Parolen, die zum Ende Israels aufrufen und von einem Befreiungskampf sprechen. Auch vielen Linken fällt es nach wie vor schwer, Empathie selbst für zivile Opfer aufzubringen und somit die Eindeutigkeit ihrer Feindbilder zu hinterfragen. Ohne die Kenntnis der Komplexität des Nahen Ostens kommt es sehr schnell zu reflexartigen "Analysen".

STANDARD: Wie lässt sich differenzieren zwischen Sympathien für die palästinensische Bevölkerung, Antisemitismus und Kritik an Israel?

Embacher: Es ist antisemitisch, wenn man Israel dämonisiert und für sämtliche Konflikte verantwortlich macht. Auch wenn Israel eine Demokratie ist, muss bei der Bewertung von Antisemitismus natürlich auch die Besatzungspolitik mit hereingenommen werden. Aber es ist auffallend, dass von vielen Gruppierungen weniger Kritik an China oder anderen Diktaturen wegen Menschenrechtsverletzungen geübt wird, als es bei einem demokratischen Land wie Israel der Fall ist.

STANDARD: Wo liegen die Unterschiede zwischen linkem und rechtem Antisemitismus?

Embacher: Teile der Linken analysieren diesen Konflikt recht kontextlos mit ihrem Verständnis von Kolonialismus, wonach Zionismus zu verurteilen ist. Beim Antisemitismus im rechten Spektrum gibt es zum einen rechtsextreme Gruppen, die einen klassischen rassistischen Antisemitismus vertreten und gleichzeitig eine starke Islamfeindlichkeit. Ein Beispiel dafür ist das Attentat in Halle an der Saale, wo eine Synagoge das Ziel war, der Täter dann eine Passantin und einen Mann in einem Kebab-Laden erschossen hat. Er war auch Anhänger von "Great Replacement" (Bevölkerungsaustausch, Anm.). Im Fall der FPÖ wiederum ist es komplexer: Sie schloss sich 2010 unter Heinz-Christian Strache anderen rechten Parteien an, die eine proisraelische und projüdische Position vertraten, wobei sie bei rechten israelischen Politiken andocken konnten. 2009 stellte sich die FPÖ während des Israel-Gaza-Krieges allerdings noch eindeutig auf die Seite der Hamas.

STANDARD: Wie lässt sich muslimischer Antisemitismus erklären? Welche Gemeinsamkeiten hat ein palästinensischer Antisemit mit einem türkischen Antisemiten?

Brennende Israel-Flasche
Verbrennung der Israel-Fahne in Sanaa, Jemen, nach dem Hamas-Terrorangriff in Israel.
EPA/YAHYA ARHAB

Embacher: Dazu gibt es viele Annahmen, aber wenig Forschung. In Österreich ließen sich Teile der türkischen Community erstmals im Gaza-Krieg von 2014 für Palästina mobilisieren. Dabei spielte auch der Einfluss des türkischen Präsidenten eine große Rolle. Die Solidarisierung hat oft wenig mit dem konkreten Konflikt zu tun, vielmehr fungieren die Palästinenser als Projektionsfeld, auch für die eigene Situation. Nicht zuletzt kommt dabei der Islamfeindlichkeit in Österreich eine Rolle zu. In der Analyse des Antisemitismus in muslimischen Communitys ist aber auch auf die Heterogenität der Muslime zu achten.

STANDARD: Was ist das Neue am "neuen" Antisemitismus?

Embacher: Mit der Zweiten Intifada 2002, die auf beiden Seiten sehr brutal geführt wurde, hat in Europa die Debatte über einen muslimischen Antisemitismus eingesetzt. Damals gingen vor allem in Frankreich zahlreiche Muslime für Palästina auf die Straße, und es kam zu Anschlägen auf Synagogen und einzelne Juden. Mit der Ermordung von Juden und Jüdinnen auf offener Straße wie in Toulouse 2012 oder im jüdischen Museum in Brüssel hat der Antisemitismus eine neue Dimension angenommen und sich verständlicherweise auf jüdische Communitys in ganz Europa ausgewirkt.

STANDARD: Antisemitismus gibt es seit der Antike. Gibt es Best-Practice-Beispiele für seine Bekämpfung?

Embacher: Antisemitismus ist ein Vorurteil, das sehr anpassungsfähig ist und sich für unterschiedliche Krisen als Erklärung anwenden lässt: in der Finanz- oder Flüchtlingskrise, während Corona. Nicht jede Weltverschwörung ist antisemitisch, aber anschlussfähig dafür. Man kann Antisemitismus wie andere Vorurteile meiner Ansicht nach nicht vollständig bekämpfen. Man kann ihn aber reduzieren, zum Beispiel indem man nicht mit Klischeebildern arbeitet und das Judentum und Israel differenzierter darstellt, als es aktuell medial und oft auch von der politischen Seite erfolgt. (Anna Giulia Fink, 13.10.2023)