Protest
Auch in vielen anderen Ländern kommt es zu Protesten für die Palästinenser. Gleichzeitig wird quer über den Globus der Opfer der Hamas-Attacken gedacht.
AFP/HAZEM BADER

Für aufmerksame Ohren klang es beinahe so, als würde Benjamin Netanjahu schon vor der Eröffnung der Bodenoffensive im Gazastreifen die militärischen Ziele Israels an eine bittere Realität anpassen: Die Hamas werde eliminiert werden "so wie der ‚Islamische Staat‘", sagte der israelische Premierminister am Mittwoch. Die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS), die 2014 ein Drittel von Syrien und ein Viertel des Irak überrannte, ist noch immer in mehreren Weltgegenden aktiv, bringt Menschen um und zieht Anhänger und Anhängerinnen an – auch wenn sie seit 2019 kein Territorium mehr unter ihrer Gewalt hat.

Der IS, letztlich ein Produkt der US-Invasion im Irak, hat eine relativ kurze Geschichte verglichen mit jener der Hamas, die 1987 während der ersten Palästinenser-Intifada gegründet wurde. Während der IS sich auf übernationale Ziele im Nahen Osten und darüber hinaus bezog, richtet sich die Hamas vor allem gegen den Staat Israel. Und Juden und Jüdinnen.

Antijüdische Agenda

Israel hatte den Gazastreifen im Sechstagekrieg 1967 besetzt, später dort auch völkerrechtswidrige Siedlungen gebaut, war jedoch 2005 unilateral, das heißt ohne verhandeltes Arrangement mit der Palästinenserführung, abgezogen. 2006 gewann die Hamas Wahlen, seit 2007 beherrscht sie allein den Gazastreifen, herausgefordert höchstens von ebenso radikalen Organisationen wie dem Islamischen Jihad.

Über die nationale Agenda pflegt sie auch den Judenhass, der in der ägyptischen Muslimbruderschaft vom Ideologen Sayyid Qutb (hingerichtet 1966) speziell ausgearbeitet wurde. Die Hamas wurde als palästinensischer Zweig der Muslimbrüder gegründet. Ihre religiöse antijüdische Agenda ist aber auch ins Denken anderer Israel-feindlicher Gruppen, sogar explizit nichtreligiöser, eingesickert. Sie haben die Schriften westlicher Antisemiten wie das Machwerk Die Protokolle der Weisen von Zion willig rezipiert.

Apokalyptischer Wahn?

Die Welt fragt sich heute, welche strategischen Ziele die Hamas mit dem beispiellosen Terrorangriff in Israel verfolgte: Sind der eigene Untergang und jener der Bevölkerung im Gazastreifen einkalkuliert? Geht der ideologische Wahn so weit, dass eine apokalyptische Schlacht heraufbeschworen werden soll, aus der am Ende die Kräfte des Islam siegreich hervorgehen? Dass nur "Palästina" wieder auf die internationale Agenda gesetzt werden sollte, ist schwer zu glauben.

Denn die Hamas hat sogar die üblichen terroristischen Modelle – gezielte Anschläge mit möglichst vielen Zufallsopfern – verlassen und Pogrome im alten Wortsinn verübt. Die Täter haben ihren Opfern in die Augen geblickt. Ein geplanter Blutrausch. Und sie wussten, was danach auf den Gazastreifen zukommen würde.

Ist gerade das wiederum eine Falle? Angesichts des sich vor dem Gazastreifen aufbauenden israelischen Militärapparats und der Bombardements im dicht bewohnten Gebiet war bis zuletzt nicht klar, welche militärischen und politischen Ziele sich Israel vor der Offensive gesetzt hat. Die Hamas zu schlagen, das ist sehr vage. Ist es realistisch? Gibt es konkrete Forderungen an die Hamas außer der Freilassung der Geiseln? Wie ist der Moment eines Siegs über die Hamas zu definieren? Was kommt danach? Der Albtraum, dass Israel den ganzen Gazastreifen wieder übernimmt?

Frau trauert mit Israel-Flagge
In Wien (re.) hält eine Frau eine Israel-Fahne und eine Rose in den Händen.
AFP/JOE KLAMAR

Regelmäßige Gaza-Kriege

Es ist ein Paradox: Noch jeder Schlagabtausch zwischen Israel und der Hamas ging angesichts der militärischen Überlegenheit eigentlich klar zugunsten Israels aus – und in der Realität auch wieder nicht. Denn es ist nicht nur misslungen, die Kapazitäten der Hamas dauerhaft zu minimieren, sonst wäre sie nicht, wie soeben, zu einem tagelangen Beschuss Israels mit Raketen fähig. Die regelmäßigen Gaza-Kriege und deren Verlauf und Waffenruhearrangements haben auch zur israelischen Fehleinschätzung beigetragen, was dem Land aus dem Gazastreifen schlimmstenfalls droht.

Die letzte große Bodenoffensive Israels im Gazastreifen ist gut neun Jahre her, "Operation Protective Edge" im Juli 2014. Sechs Zivilisten, 67 Soldaten auf israelischer Seite tot, auf der palästinensischen 2251 Tote, davon 1462 Zivilisten (laut OCHA, UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs). Nebenher hatten die Qassam-Brigaden noch 21 palästinensische "Kollaborateure" erschossen. Der Erfolg Israels wurde nicht nur an der Vernichtung von "Raketenfabriken" und Abschussrampen gemessen, sondern auch daran, dass 32 Tunnel zerstört wurden, von denen 14 unter der Erde nach Israel führten.

Taktik der Hamas

Es folgten Schlagabtausche in regelmäßigen Abständen, 2018, 2020, 2021, 2022. Dass die Hamas zuletzt gerne dem Islamischen Jihad quasi den Vortritt ließ und selbst nicht auf eine Eskalation hinarbeitete, erklärt sich im Nachhinein als Taktik. Da hatte sie wohl schon andere Pläne. In Israel und anderswo war jedoch prompt der Wunsch Vater des Gedankens, dass die Hamas immer nur mehr Hilfe für den Gazastreifen – vonseiten Katars, aber mit israelischer Billigung – herausholen wollte, aber selbst gar kein Interesse an einer größeren Konfrontation hatte.

Auch wenn heute die Kapazitäten und die Überlegenheit Israels beschworen werden: Das Ausmaß der Fehleinschätzung der letzten Jahre stärkt nicht das Vertrauen, dass die israelische Armee nun auch wirklich genau weiß, was alles auf sie zukommt. Dass Israels Geheimdienste nicht nur in die Straßen Gazas und sogar in die Häuser hinein, sondern auch unter die Oberfläche schauen können, hat sich als Illusion erwiesen. Die Tunnelsysteme gibt es noch immer.

Drohender Hinterhalt?

Welche Hinterhalte hat die Hamas für israelische Soldaten vorbereitet? Wird "die Stadt unter Gaza", wie es öfter heißt, zum neuen Demütigungsort Israels, wenn dort die Geiseln verschwinden, ohne jemals gefunden zu werden? Wie blutig wird der Häuserkampf? Und werden vor allem – ganz im Sinne der Hamas – die Bilder einer sterbenden palästinensischen Zivilbevölkerung übrig bleiben? Was wird Israel bei anhaltender Erfolglosigkeit, die Geiseln zu befreien, tun, wie lange wird es die Blockade, die schon in den nächsten Tagen zur humanitären Katastrophe im Gazastreifen führen wird, aufrechterhalten?

Bereits in den ersten Tagen der israelischen Reaktion auf den Hamas-Angriff wurde die Tötung von Hamas-Führungskräften gemeldet. Auch das ist ein Motiv, das die Auseinandersetzung Israels mit der Terrororganisation seit jeher begleitet.

Führungspersonen bleiben zwar in Terrororganisationen oft erstaunlich lange in ihren Positionen. Aber auch ihre plötzliche Eliminierung zwingt diese meist nicht mit einem Schlag in die Knie. Gerade die Hamas ist breit aufgestellt, etliche ihrer Leader befinden sich außerhalb des Gazastreifens, zum Beispiel in Katar (ohne Mangel an Strom, Wasser und Lebensmittel), zeitweise im Libanon und in der Türkei – und bis zum Ausbruch des Aufstands gegen Bashar al-Assad in Syrien.

Netanjahus erster Wahlsieg

Man könnte behaupten, dass eine "Liquidation", wie extralegale Tötungen manchmal genannt werden, Benjamin Netanjahu 1996 zu seiner ersten Amtszeit als Premier verhalf. Die Hamas stellte sich mit einer Terrorwelle in Israel dem Oslo-Friedensprozess entgegen, den die israelische Arbeitspartei unter Yitzhak Rabin gemeinsam mit der Palästinenserführung beschritten hatte. Rabin wurde im November 1995 von einem jüdischen Extremisten ermordet. Übergangspremier Shimon Peres ließ Anfang Jänner 1996 im Gazastreifen Yahya Ayash, den "Ingenieur" der Qassam-Brigaden, in die Luft sprengen, der die Bomben für eine Reihe von Selbstmordanschlägen in Israel konstruiert hatte.

Danach wurden im Februar und März 1996 bei weiteren vier Anschlägen in Israel 78 Menschen getötet. Dazu bekannten sich die "Jünger des Märtyrers Yahya Ayyash". Peres verlor die Wahlen, und Netanjahu – Kandidat der Likud-Partei, die ebenfalls gegen den Oslo-Friedensprozess war – gewann sie.

Lange Liste

Die Liste von Tötungen von Hamas-Führern ist lang, die wichtigste davon galt Ahmed Yassin, einem der Hamas-Gründer, im März 2004. Sein Nachfolger Abdelaziz al-Rantisi war nur einen Monat später an der Reihe. Die Hamas überlebte es und wurde noch stärker.

Als politisches Desaster ging 1997 – also unter Premier Netanjahu – der israelische Mordversuch an Khaled Meshal, dem Chef des Hamas-Politbüros, in die Geschichte ein. Mossad-Agenten waren mit falschen Pässen in Jordanien eingereist und versuchten, Meshal auf der Straße mit Opioiden zu vergiften.

Frauen mit Flaggen
Frauen im Westjordanland jubeln auf Demos der Hamas zu.
IMAGO/Mamoun Wazwaz \ apaimages

Diplomatische Krise

König Hussein, der 1994 einen in Jordanien ungeliebten Frieden mit Israel abgeschlossen hatte, drohte mit einer diplomatischen Krise und erzwang die Lieferung eines Gegenmittels für Meshal. Der blieb bis 2017 in seiner Führungsrolle.

Ein Vierteljahrhundert Hamas-Geschichte als ständiger Begleiter der Karriere des einflussreichsten israelischen Politikers der letzten Jahrzehnte, Benjamin Netanjahu. Er gestaltete die Gaza-Politik und vermittelte den Eindruck, die Hamas sei ein kalkulierbares Risiko für Israel, der Gazastreifen lückenlos überwacht. Wenn das so ein alter Fuchs sagt, dann waren es wohl auch seine rechten Partner – immerhin ist Itamar Ben-Gvir Sicherheitsminister – zufrieden. Sie dachten nur an das Israel zuzuschlagende Territorium im Westjordanland. Da war es bequem, möglichst wenig Sicherheitsressourcen auf den Gazastreifen zu verwenden.

Die Hamas: Das Akronym von "Harakat al-Muqawama al-Islamiya", Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet Fleiß und Eifer, weiter gefasst auch Kampfbereitschaft, Fanatismus. Bombardieren lässt sich die Organisation, aber nicht die Ideologie. Irgendwann einmal wird auch sie Geschichte sein. Aber das wird länger dauern als dieser Krieg. (Gudrun Harrer, 14.10.2023)