Das vom ehemaligen stellvertretenden Außenminister Israels Danny Ayalon benützte Wort "vorübergehend" wurde ihm in Ägypten und anderswo in der arabischen Welt einfach nicht geglaubt: Die Menschen in Gaza, sagte Ayalon auf Al-Jazeera, sollten ihre Wohnungen verlassen und sich "in die Wüste Sinai in Ägypten begeben", wo vorübergehend Zeltstädte für sie errichtet würden.

Ein ägyptischer Hilfskonvoi – mit Propaganda für Präsident Abdelfattah al-Sisi – wartet an der Grenze in Rafah.
Ein ägyptischer Hilfskonvoi – mit Propaganda für Präsident Abdelfattah al-Sisi – wartet an der Grenze in Rafah.
AFP/KHALED DESOUKI

Zuvor hatte bereits ein Armeesprecher für Empörung gesorgt, als er – fälschlicherweise – sagte, die Bewohnerschaft Gazas könne sich nach Ägypten in Sicherheit bringen, Rafah sei offen. Seitdem zirkuliert in arabischen Netzwerken die Behauptung, dass eines der Kriegsziele Israels die Vertreibung der Palästinenser und Palästinenserinnen aus dem Gazastreifen sei: eine ethnische Säuberung, die nächste große Nakba – Katastrophe – nach jener von 1948. Dass die Geflüchteten jemals wieder zurückkehren könnten, glaubt niemand, obwohl Ayalon das später klarstellte.

Abgesehen davon, dass die Hamas die Zivilisten sogar an der Flucht in den Süden des Küstenstreifens zu hindern versucht und nicht will, dass sie den Gazastreifen verlassen, um nicht ihre menschlichen Schutzschilde zu verlieren: Die Vorstellung eines massiven Flüchtlingsstroms aus dem Gazastreifen auf die Halbinsel Sinai ist in der Tat ein Albtraum für Ägypten. Das ist einer der Gründe dafür, dass Kairo so sehr darauf drängt, Hilfe in den Gazastreifen zu schaffen. Die Menschen sollen dort bleiben können.

Video: In Ägypten stauen sich auf der Halbinsel Sinai Lkw mit Hilfslieferungen für den Gazastreifen, die vorerst nicht in das von Israel abgeriegelte Palästinensergebiet gebracht werden dürfen.
AFP

"Bleibt auf eurem Land"

Auf dem Flughafen in El Arish, 50 Kilometer westlich von Rafah, und direkt vor dem Grenzübergang stauen sich die Hilfsgüter. Präsident Abdelfattah al-Sisi rief die Palästinenser im Streifen auf, "auf ihrem Land zu bleiben". Ägypten, selbst in großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wäre mit der Versorgung von Zehntausenden oder sogar mehr Flüchtlingen auch wirklich überfordert. Zudem wird das Miteinsickern von Extremisten befürchtet - und Menschen, die in Lagern in Not und ohne Perspektive leben, sind überdies immer ein Pool für Radikalisierung.

Die ägyptische Sorge speist sich auch aus dem Auftritt von Israels Premier Benjamin Netanjahu bei der Uno-Generalversammlung in New York im September. Bei seiner Rede präsentierte er eine Landkarte, bei der neben dem Westjordanland auch der Gazastreifen als israelisches Gebiet eingezeichnet war. In Ägypten fürchtete man, dass die rechte Regierung in Jerusalem in ihrem Entwurf eines "Neuen Nahen Ostens" den Sinai als Ansiedlungsgebiet für Palästinenserinnen und Palästinenser betrachten könnte. Aber überraschend stark fiel aktuell auch die starke Warnung der USA vor einer israelischen Wiederübernahme des Gazastreifens aus. Israel war 2005 von dort unilateral abgezogen.

Die Halbinsel Sinai ist ein ständiges Sicherheitsproblem, das im Sommer 2013 beim Sturz von Präsident Mohammed Morsi durch General al-Sisi keine geringe Rolle spielte. Die ägyptische Armee befürchtete, dass Morsi zulassen könnte, dass sich der Sinai zur Brücke zwischen seiner Muslimbruderschaft und der Hamas entwickeln würde. Morsi ist weg, aber seitdem gibt es auf Teilen des Sinai einen manchmal heißen, manchmal latenten islamistischen Aufstand, den Ägypten nur mit brutalem Vorgehen gegen die einheimische Bevölkerung – was immer wieder neue Feinde schafft – im Griff hat.

Ägyptisch verwaltet

Der Gazastreifen und Ägypten haben historisch enge Verbindungen. Bis zur Eroberung durch Israel im Sechstagekrieg 1967 – bei dem es auch den Sinai besetzte – stand der schmale Küstenstreifen unter ägyptischer Verwaltung. Die Hamas hat zwar eine spezifische palästinensisch-nationalistische Agenda, wurde jedoch 1987 als Filiale der ägyptischen Muslimbruderschaft gegründet.

Mit dem Revolutionsjahr 2011 erlebten die Muslimbrüder in der arabischen Welt einen politischen Aufstieg – und danach einen umso stärkeren Absturz. Sie sind in Ägypten, aber auch in einigen arabischen Golfstaaten verboten. In ihrer neuen Charta 2017 strich die Hamas auf Druck Ägyptens und anderer ihre Zugehörigkeit zur Muslimbruderschaft: Wirklich abgenommen hat ihr das niemand.

Ein spezielles Geschichtsverständnis zeigte indes Ägyptens Präsident beim Besuch von US-Außenminister Antony Blinken, der seine jüdische Zugehörigkeit thematisierte. Sisi belehrte Blinken, dass Juden in Ägypten nie Repressionen ausgesetzt gewesen seien: Er habe selbst jüdische Nachbarn gehabt. Da muss der 1954 Geborene allerdings noch sehr jung gewesen sein. 1956 wurden im Lauf der Suez-Krise die Juden zu Zionisten und Feinden Ägyptens erklärt. Es gehört jedoch zum herrschenden Narrativ, dass die sehr alte jüdische Gemeinde Ägyptens völlig freiwillig und ohne Schaden weggegangen ist, das mussten sie auch unterschreiben. Historisch ist das natürlich nicht haltbar. Heute sind von etwa 80.000 im Jahr 1948 hundert Personen geblieben. (Gudrun Harrer, 16.10.2023)