Pallas Athene vor dem Parlament in Wien
Die renovierte Statue der Pallas Athene vor dem Parlament in Wien. Neue Impulse brauchen auch liberale Demokratien.
APA/ROLAND SCHLAGER

Mit zunehmendem Misstrauen bewertet die Bevölkerung den Zustand der heimischen Demokratie. Das zeigte der Demokratie-Monitor des Sora-Instituts im heurigen August. Die Zufriedenheit mit dem politischen System und das Vertrauen in Institutionen sind in allen Bevölkerungsgruppen gesunken. 78 Prozent der Befragten im mittleren Einkommensdrittel finden, dass sich "die gut Situierten untereinander ausmachen, was im Land passieren soll". Mehr als zwei Drittel der Österreicherinnen und Österreicher im unteren Einkommensdrittel fühlen sich im Parlament nicht vertreten, 60 Prozent dieser Gruppe haben den Eindruck, mit politischer Beteiligung keine Veränderung bewirken zu können.

Bereits zuvor war Österreich im Demokratiebericht des Varieties of Democracy Institute (V-Dem Institute) der schwedischen Universität Göteborg von einer "liberalen Demokratie" auf eine "Wahldemokratie" herabgestuft worden. Bürgerinnen und Bürger dürften zwar ihre Stimme abgeben, die optimalen Bedingungen für eine Demokratie seien aber nicht gegeben. Global bauen sich Demokratien vielerorts ab. Erstmals seit 20 Jahren gibt es laut V-Dem Institute mehr geschlossene Autokratien als liberale Demokratien.

Blütephasen und Zerfall

"Eine Demokratie funktional zu machen – ein für alle Mal – ist eine Illusion", sagt Charles Taylor. Der emeritierte Professor der Philosophie von der McGill-Universität in Montreal bezeichnet die Demokratie als ein "telic concept": "Demokratie ist ein Ziel, eine Idee. Es gibt Zeiten, in denen man sich ihr nähert, und Zeiten, in denen man sich entfernt, historisch gesehen." Nach einer blühenden Phase der Prosperität und des Aufschwungs in den Jahren von 1945 bis 1975 befänden sich zahlreiche westliche Demokratien wieder in einem Abwärtstrend, im Zerfall. Was konsequent verlorengehe, seien die Wirksamkeit und Einflussmöglichkeit der Bevölkerung. Die soziale Ungleichheit in Form von immer stärker konzentriertem Reichtum und damit Macht sei allerdings gleichermaßen Ursache für und Auswirkung von Demokratiezerfall.

"Je mehr Menschen das Gefühl haben, dass sie keine wirkliche Macht gegenüber den Eliten haben – dass ihr Schicksal woanders entschieden wird, etwa dadurch, ob es in ihrer Gegend Beschäftigung oder gute und sichere Arbeitsplätze gibt oder bezahlbare Bildung für ihre Kinder –, desto entmutigter fühlen sie sich hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, diese Bedingungen zu beeinflussen, und desto weniger wählen sie", schreibt Charles Taylor im Buch "Degenerations of Democracy". Gemeinsam mit Craig Calhoun, Universitätsprofessor der Arizona State University, und Dilip Parameshwar Gaonkar, Professor der Northwestern University, sammelte er darin Beobachtungen und Forschungsergebnisse über Aufstieg und Fall von Demokratiebewegungen.

Debatte und Warnungen

Bei einem Panel am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien diskutierten die Autoren ihre Erkenntnisse. "Machen Sie nicht den Fehler zu glauben, Angriffe von Antidemokraten oder Plutokraten wären die größte oder die einzige Gefahr für die Demokratie", warnt Craig Calhoun in diesem Rahmen. Im Gegensatz zu früheren Abbauentwicklungen, die oft durch Angriffe von außen beziehungsweise militärische Interventionen verursacht worden sind, käme heute die größte Bedrohung für Demokratien von innen. Neben Populismus und neuen (sozialen) Medien behandeln die Autoren die weltweit dominierende (neo)liberale Politik als Ursache für den Demokratiezerfall, wobei ihr neben Kritik auch entsprechende Anerkennung und Berechtigung beim Erreichen globaler Wohlstandssteigerung ausgesprochen wird.

Privater Gewinn oder Solidarität?

"Berauscht vom Fundamentalismus des freien Marktes werfen die Neoliberalen traditionelle Zwänge und die Lehren der Geschichte beiseite. Während sie sich das politische Etikett ,konservativ‘ aneigneten, gaben sie dessen langjährige Bindung an Ort, Nation und Solidarität auf. Und natürlich waren sie keine Sozialisten. Ziel war es, die öffentlichen Güter und Annehmlichkeiten zu privatisieren, die zur Wahrung der Autonomie der Bürger und zur Entwicklung eines gemeinsamen Gefühls für die gemeinsame Zukunft erforderlich sind. Sie förderten einen Homo oeconomicus, der für privaten Gewinn gegen soziale Gleichheit und politische Solidarität eintrat."

Den Aufstieg des Populismus sehen die Autoren bedingt durch die absteigende Macht des Volkes oder Demos. Populistische Mobilisierungen würden dabei aber auf Verstöße, Ausschreitungen oder auch Missstände konventioneller Politik antworten und könnten auch als Seismograf von Unzufriedenheiten in der Bevölkerung betrachtet werden. Mit dem steigenden Wohlstand des späten 20. Jahrhunderts sei für sozialistische und sozialdemokratische Parteien die Notwendigkeit entstanden, neue identitätsstiftende Inhalte zu finden, sie seien ebenfalls der liberalen und neoliberalen Agenda verfallen.

Populistische Versprechen

"Die Sozialdemokraten wurden die Parteien der gebildeten Intellektuellen anstatt Parteien der Arbeiter. Die Arbeiterklasse hat sich entfernt von den sozialdemokratischen Parteien und blieb frustriert zurück, verlassen von den Linken", sagt Calhoun. Die Demagogen und Rechtspopulisten hätten sich als ihre Vertreter positioniert, ohne tatsächliche Verbesserung ihrer sozialen Verhältnisse anzustreben. Sie täuschten demokratische Überzeugung – ein Interesse an mehr Verteilungsgerechtigkeit und den Lebensbedingungen einkommensschwächerer Schichten – lediglich vor, seien aber zugleich demokratisch legitimiert in ihren Positionen – ein Paradoxon.

Die Krise der Demokratie sei eine Krise des Wohlfahrtsstaates, Ungleichheit und Ohnmachtsgefühl bilden die Brandbeschleuniger in einer sich rasant verändernden Welt, die das Volk regulatorisch nicht mehr zähmen kann. Auf mehr als 300 Seiten breiten die Autoren ihr fundiertes und umfassendes Zeugnis des Zustands der heutigen, in erster Linie westlichen Demokratien aus. Daneben führen sie aber auch Reformvorschläge und Empfehlungen an: "Wir bieten dieses Buch als Plädoyer für die Demokratie an und erneuern den großen Ruf der Französischen Revolution nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Anstatt die Vorstellungen von Demokratie einzuschränken, damit sie in die Normen der Politik passen, sollten wir unsere Vorstellungen von Politik erweitern, um die Stärkung der Bürger, soziale und kulturelle Inklusion und das Streben nach dem Gemeinwohl statt nach vorübergehenden Siegen polarisierter Fraktionen einzubeziehen." (Sarah Kleiner, 19.10.2023)