Frau mit VR-Brille
In modernen Technologien schlummert großes Potenzial, um Menschen mit Beeinträchtigung in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen.
IMAGO/Westend61

Im Alltag erledigen wir vieles, ohne groß darüber nachzudenken, wie etwa Tischdecken, Geschirreinräumen und Mülltrennen. Für manche Menschen sind diese Aufgaben jedoch mit erheblichem Aufwand verbunden. Denn trotz aller Bemühungen sind die Rahmenbedingungen unserer Welt nicht für alle gleichermaßen geeignet. Selbstbestimmt zu leben und teilzuhaben steht aber jedem Menschen zu, unabhängig von möglichen Beeinträchtigungen.

Erweiterte Realität

In Österreich ist dieses Recht seit 2008 in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verankert – ein Vertrag, dessen Ziel die Schaffung einer Gesellschaft ist, in der alle Menschen gleichberechtigt am sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben beteiligt sind. Neue Wege zu diesem Ziel eröffnet der technologische Fortschritt. Die Unternehmerische Hochschule MCI und die Lebenshilfe in Tirol setzen auf innovative Ansätze, die künstliche Intelligenz und Augmented Reality bieten.

Im Forschungsprojekt "Smart Inclusion" werden AR-Brillen eingesetzt, um Menschen mit Behinderungen das Leben zu erleichtern. "Den Einsatzmöglichkeiten sind keine Grenzen gesetzt, aber vor allem bei Arbeitsabläufen mit hohem Routineanteil entfaltet die Technologie ihre unterstützende Wirkung", erklärt die Projektleiterin Magdalena Posch. Die Hololens 2 von Microsoft integriert dreidimensionale Projektionen in die natürliche Umgebung und erweitert die Realität um grafische Darstellungen, akustische Informationen und textbasierte Bedienelemente.

Rezepte virtuell angezeigt

Die Steuerung erfolgt mühelos über Gesten, Sprache oder Kopfbewegungen. Im Rahmen des partizipativen Forschungsansatzes ist der kontinuierliche Dialog mit den Betroffenen, ihren Betreuungspersonen und Angehörigen von großer Bedeutung, um ein ganzheitliches Bild zu erhalten, das den individuellen Bedürfnissen gerecht wird, ohne sich auf bestimmte Diagnosen zu beschränken. Dass sich das Ganze noch in der Entwicklungsphase befindet, verdeutlicht Projektteilnehmer Robert Gleinser: "Es war schon ein bisschen komisch. Wenn man die Brille aufsetzt, sieht man Dinge, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt. Erst wenn man sie abgenommen hat, war man wieder in der Realität." Gleinser kam zu früh auf die Welt. Als behindernd bezeichnet er etwa sein Stottern.

In vielerlei Hinsicht ist Gleisner dazu in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. In anderen Bereichen ist er auf die Unterstützung seiner Betreuerin Magdalena Ploder angewiesen: "Mit dem Prototyp, den Robert ausprobiert hat, konnte er sich noch kein richtiges Bild machen. Es ging vor allem darum, die Brille auszuprobieren. Es ist sehr aufregend, bei der Entwicklung dabei zu sein." Als Einsatzbereich, in dem Gleinser Hilfe gebrauchen könnte, nennt er: "Zum Beispiel in der Küche. Das kann ich nicht so gut. Wenn ich Kochrezepte angezeigt bekomme – das kann ich mir gut vorstellen."

Lorenz Kerer von der Lebenshilfe ist überzeugt, dass immer mehr Menschen mit Behinderungen in Zukunft von technischen Hilfsmitteln profitieren werden: "Lange Zeit gab es nur wenige IT-Anbieter im Sozialbereich. Mittlerweile gewinnen solche Assistenzsysteme gesellschaftspolitisch an Bedeutung." Die im vergangenen Jahr vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen herausgegebenen "Leitlinien zur Deinstitutionalisierung" sollen einen Beitrag dazu leisten, dass die Betroffenen ein möglichst selbstständiges Leben führen.

Zwischen Hilfe und Skepsis

Da sich Betreuungsarbeit zunehmend in die eigenen vier Wände verlagert, steigt die Nachfrage nach entsprechenden Technologien in der Behinderten- und Altenpflege. Für Österreich gelte laut Kerer: "Wir müssen nicht gleich drei Schritte machen – eineinhalb würden schon reichen, um der UN-Konvention näher zu kommen."

Tatsächlich ist die Akzeptanz neuer Technologien in Österreich eher verhalten. Das wurde auch im Rahmen des Projekts "Smart Inclusion" bekräftigt. "In der jüngsten Eurobarometer-Umfrage erweisen sich die Österreicher und Österreicherinnen verglichen mit ihren europäischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen als besonders skeptisch. Mögliche Schäden durch neue Technologien sind eine der größten Befürchtungen", sagt Posch. So könnte der Einsatz von Technik einzelne Personen ausschließen, weil sie keinen Zugang zu den notwendigen Geräten haben, ihnen die digitale Kompetenz fehlt oder ihre körperliche Konstitution es nicht zulässt. Außerdem wird eine Abhängigkeit von der Technologie und die Verdrängung menschlicher Arbeitskraft befürchtet.

Das Projektteam nimmt diese Bedenken ernst, doch die flächendeckende und langfristige Implementierung eines solchen Reglements ginge über das Projekt hinaus: "Die Verantwortung für den Einsatz neuer Technologien darf nicht allein bei den Unternehmen liegen. Es sind die politischen Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen, die auf nationaler und/oder europäischer Ebene Regelwerke schaffen müssen, deren Einhaltung überprüft und gegebenenfalls konsequent sanktioniert wird", betont die Projektleiterin. (Julia Dvorin, 21.10.2023)