Der Stolz ist Wladimir Putin ins Gesicht geschrieben. Sein Krieg gegen die Ukraine läuft schon seit Monaten, fast ebenso lang versucht der Westen, mit Sanktionen Druck auf ihn auszuüben. Und trotzdem hat es geklappt: Die erste Anlage des bislang größten Flüssigerdgasprojekts der russischen Geschichte ist fertig. Mit einem breiten Grinsen legte der russische Präsident im Juli einen rot-blauen Hebel um – und nahm die schwimmende Produktionsplattform zumindest symbolisch in Betrieb.

Russlands Präsident Wladimir Putin beim Startschuss für das Arctic-LNG-2-Projekt in Novateks Fabrik in Murmansk.
IMAGO/Alexander Kazakov

Das 640.000 Tonnen schwere Ungetüm soll wenig später von Murmansk, der größten nördlich des Polarkreises gelegenen Stadt der Welt, nach Sibirien geschleppt werden. Dort, im hohen Norden, weit oberhalb des Polarkreises, wo die Temperaturen gerne mal unter 50 Grad minus sinken, wird sie Teil eines russischen Prestigeprojekts. Sein Name: "Arctic LNG 2", sein Ziel: höchst ambitioniert – und ebenso umstritten.

Ausgerechnet in der Arktis, einem der letzten noch weitgehend unberührten Flecken der Erde, soll mit einem aufwendigen Verfahren Erdgas gefördert und mit speziellen Anlagen auf etwa minus 162 Grad heruntergekühlt werden. So wird es flüssig und verliert deutlich an Volumen. Danach kann das Liquefied Natural Gas (LNG) auf Schiffe verladen werden. Sobald es am Zielort angekommen ist, wird es in Flüssigerdgas-Terminals wieder in Gas umgewandelt. Die russischen Produktionskapazitäten von Flüssigerdgas sollen durch Arctic LNG 2 um mehr als die Hälfte steigen. Was wohl die wenigsten wissen: Schon jetzt importiert die Europäische Union mehr russisches LNG als vor dem Überfall auf die Ukraine.

Technologie aus dem Westen

Es ist eine von vielen Absurditäten im Umgang der EU mit Russland: Trotz aller Kritik, trotz vieler Sanktionen gehen die Importe weiter – indirekt wird damit unweigerlich Geld in die Kriegskasse von Wladimir Putin gespült. Kritiker verweisen zudem auf die negativen Folgen für die Umwelt: Damit größere Schiffe die LNG-Anlage erreichen können, wird der arktische Meeresboden abgebaggert. Dies werde zum Aussterben von einzigartigen Tieren führen, warnen russische Forschende. Aktivistinnen und Aktivisten der indigenen Bevölkerung fürchten um die Folgen für ihre Rentierherden.

Seinen Ursprung hat Russlands Arctic-LNG-2-Projekt im Jahr 2014, jenem Jahr, als Kämpfer im Auftrag Putins die Krim besetzten. Trotzdem stiegen neben dem Hauptanteilseigner Novatek, einem Unternehmen mit engen Verbindungen zu Wladimir Putin, mehrere ausländische Unternehmen in das Projekt ein: Der französische Energieriese Total Energies etwa hält zehn Prozent der Anteile. Die Technologie für das Mammutprojekt kommt größtenteils aus dem Westen.

Ein Bohrlochkopf auf dem Utrenneye-Erdgasfeld, das an Arctic LNG 2 anschließt.
Natalia Kolesnikova / AFP

Ohne westliche Unternehmen wären derartige Projekte niemals möglich gewesen, heißt es von Experten wie Günter Eiermann, der seit Jahren in der LNG-Branche arbeitet.

Eine dieser Firmen ist das ehemals deutsche Traditionsunternehmen Linde, das seit einer Fusion im Jahr 2018 Linde plc heißt und seinen Hauptsitz im irischen Dublin hat. Der Konzern war zusammen mit der französischen Technip FMC und der russischen Nipigaz von 2017 bis 2021 Teil eines Joint Ventures, das die Basisplanung für den Bau der LNG-Anlage vorantreiben sollte. Zusätzlich versprach Linde 2018 – und damit vier Jahre nach Besetzung der Krim – Wärmetauscher für das Projekt zu liefern. Laut Experten sind Wärmetauscher die wichtigsten Bausteine solcher Anlagen, sie werden zur Verflüssigung des Erdgases eingesetzt.

Wärmetauscher vor Ort produzieren

Zeitweise erwog sogar die deutsche Bundesregierung, die Lieferungen über eine Exportkreditagentur abzusichern. Die Kritik kam prompt: "Neben der Bedrohung des Klimas, der Artenvielfalt und der Energieunabhängigkeit Europas möchten wir betonen, dass Arctic LNG 2 auch moralische Fragen im Zusammenhang mit Menschenrechtsverletzungen in Russland aufwirft", mahnten knapp 40 Europaabgeordnete 2021 in einem Schreiben an die deutsche Bundesregierung. Am Ende gab es keine Export-Bürgschaft. Das Wirtschaftsministerium teilte auf Anfrage von DER STANDARD mit, dass der Antrag auf Übernahme einer Exportkreditgarantie zurückgezogen wurde.

Linde ließ sich davon nicht aufhalten. Das Unternehmen unterstützte nicht nur bei der Planung des Großprojekts, sondern half den Russen auch, die Bauteile teilweise selbst herzustellen. Dafür war Linde 2017 ein Joint Venture mit der russischen JSC Power Machines eingegangen. Das Ziel: Wärmetauscher vor Ort in Sankt Petersburg zu produzieren – unter anderem auch für Arctic LNG 2.

Eine Satellitenaufnahmen zeigt die Arctic-LNG-2-Anlage auf der Gydan-Halbinsel im Westen Sibiriens.
Google Earth

Deutsche Technik macht ein russisches Prestigeprojekt möglich: Was nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim schon eine Herausforderung war, ist spätestens seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine ein massives Problem. "Es ist schockierend, dass trotz der heimtückischen russischen Invasion in der Krim im Jahr 2014 Unternehmen weiterhin mit Firmen in Russland zusammenarbeiten", sagt Svitlana Romanko von der ukrainischen Nichtregierungsorganisation Razom We Stand. "Diejenigen, die auch nach der vollständigen Invasion weitergemacht haben, haben Putins Fähigkeit gestärkt, seine Kriegskasse zu füllen, und sie haben zu dem massiven fortgesetzten Völkermord an unschuldigen Menschen in meinem Land geführt."

Komplizierter Ausstieg

Nach Russlands Invasion verhängten neben der Ukraine die Vereinigten Staaten, Kanada und auch die Europäische Union weitreichende Sanktionen. Linde-Chef Sanjiv Lamba erklärte im Frühjahr 2023: "Wir haben alle bestehenden Projekte mit juristischen Personen gestoppt, die unter Sanktionen gegen Russland fielen. Heute haben wir in der Russischen Föderation keine Projekte mehr."

Russland schien mit Arctic LNG 2 plötzlich ziemlich allein dazustehen. Selbst russische Medien zweifelten, ob das Prestigeprojekt angesichts der EU-Sanktionen noch weitergebaut werden könne: Die noch fehlenden Wärmetauscher von Linde seien schlicht nicht so einfach zu ersetzen: "Am kritischsten ist das Verbot der Lieferung von Wärmetauschern für die Gasverflüssigung mit großer Kapazität", schrieb die russische Wirtschaftszeitschrift "Expert.ru" im Jänner 2023. Die Aufgabe, alternative Lösungen zu finden, unter Umgehung von Sanktionen, bereite den Verantwortlichen "Kopfzerbrechen".

Doch ganz so schnell und ganz so absolut, wie es zunächst schien, war der Rückzug vieler westlicher Unternehmen aus Russland eben nicht. Das französische Unternehmen Technip etwa schlug Arctic LNG 2 offenbar vor, statt kompletten Bauteilen einfach unfertige Module nach Murmansk zu transportieren. Russland weigerte sich aber, das zu akzeptieren: Laut einem Brief vom April 2022, den "Le Monde" erhalten hat, forderte Arctic LNG 2 Technip auf, "die Arbeiten an den asiatischen Baustellen vollständig abzuschließen". Ein Beispiel, das zeigt, wie kompliziert der Ausstieg aus Arctic LNG 2 sein kann. Auf Anfrage teilte Technip mit, stets in Übereinstimmung mit Sanktionen gehandelt zu haben.

Die Anlage auf dem Utrenneye-Erdgasfeld auf der Gydan-Halbinsel ist Teil von Russlands bislang größtem Flüssigerdgasprojekt.
Natalia Kolesnikova / AFP

Zwischen Sanktionen und Verträgen

Etliche westlichen Unternehmen wagten den schwierigen Balanceakt zwischen internationalen Sanktionen und bestehenden Vertragsverpflichtungen. Recherchen von SPIEGEL, dem Recherchebüro Data Desk und dem Anti-Corruption Data Collective legen nahe, dass sich westliche Unternehmen bemühten, letzte Lieferungen zu den russischen Baustellen zu bringen, bevor die Exportverbote in Kraft traten. Linde ("one of the 2023 World's most ethical companies") nutzte offenbar eine rechtliche Übergangsfrist bis zum 27. Mai 2022 – und lieferte bis dahin weiter nach Russland. Entscheidende Bauteile für Arctic LNG 2 gelangten auf diese Weise trotz aller Sanktionen mutmaßlich noch nach Russland.

Bei den gelieferten Bauteilen handelt es sich russischen Zolldaten zufolge um etwa 1.500 Tonnen schwere Ausrüstung, die "im Rahmen des Baus der LNG-Anlage des Arctic-LNG-Projekts" eingeführt wurde. Der russische Zoll registrierte die Lieferungen am 1. Juni 2022, und damit fünf Tage nach Inkrafttreten der EU-Sanktionen.

Linde versichert auf Anfrage, dass alle Lieferungen vor der Deadline europäische Häfen verlassen haben und der Konzern damit stets in strikter Übereinstimmung mit globalen Sanktionen gehandelt hat. Laufende Projekte seien schlicht nicht sofort abgebrochen, das russische Anlagen- und Gasgeschäft "dekonsolidiert" worden. Das russische Unternehmen Arctic LNG 2 war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen, sein Hauptanteilseigner Novatek wollte die Recherchen nicht kommentieren. Der Minderheitsanteilseigner Total Energies teilte mit, man stelle kein Kapital für das Projekt mehr bereit.

Umweg über Drittstaaten

Vergleicht man Satellitenaufnahmen von Arctic LNG 2 aus dem Sommer 2022 mit jenen von 2023, sieht man, wie viele Baukräne verschwunden sind. Selbst aus der Luft lässt sich erahnen, dass der Bau der Anlage trotz westlicher Sanktionen gelungen ist. Wie ist das angesichts der strengen EU-Sanktionen möglich?

Eine denkbare Erklärung sind Lieferungen über Drittstaaten: Zwei Module für Arctic LNG 2 – konstruiert mithilfe französischer Technologie – trafen noch im Oktober 2022 im Murmansk ein, offenbar waren sie mit einem Schwergutfrachter aus China nach Russland verschifft worden. Außerdem schwärmte der Vize-Vorsitzende des einstigen Linde-Joint-Ventures laut einem russischen Branchenmagazin unlängst, dass sein Unternehmen in der Lage sei, selbst Wärmetauschanlagen zu bauen. So hat Linde zwar Russland verlassen, wertvolles Know-how aber blieb offenbar dort. (Sophia Baumann, Claus Hecking, Hans Koberstein, Nathan Niedermeier, Mitarbeit: Anastasia Trenkler, 19.10.2023)