Israel, Frankfurter Buchmesse
Unterstellte ein generelles "Analyseverbot" mit Blick auf die Ursachen des Nahostkonflikts: ein erregter Slavoj Žižek im "Saal Harmonie" des Frankfurter Congress-Centers.
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Der Schluss seiner Frankfurter Rede besaß etwas Flehentliches. Philosoph Slavoj Žižek, Hans Dampf auf allen Umwegen postmoderner Theoriebildung, schloss seinen Beitrag zur Buchmesseneröffnung mit der Feststellung, sich zu "schämen". Seine Rede vorher war tumultuös verlaufen. Žižek hatte Israel jedes Recht zugesprochen, sich gegen die mörderischen Hamas-Attacken auf seine Zivilbevölkerung zur Wehr zu setzen. Zugleich sprach der Slowene jedoch von der Notwendigkeit, den Hintergrund des schier unlösbar scheinenden Nahostkonflikts zu erhellen.

"Man muss auch die Palästinenser erwähnen": Žižeks Verweis auf den "Schwebezustand", in dem sich die palästinensischen Araber in Gaza und im Westjordanland befänden, enthielt deutliche Kritik. So lobte Žižek die Offenheit der israelischen Staatsgründer, mit der diese alle Vorrechte für die jüdischen Siedler gerechtfertigt hätten. Heute würden die Palästinenser von Israels Rechtsregierung ausschließlich als "Problem" behandelt, auf eine undeklarierte, für die Betroffenen ruinöse Weise.

Das Dilemma, von dem Žižek nolens volens sprach, half dem Philosophen nicht dabei, seine Rede zu strukturieren. Er betreibe keinerlei Art Relativismus, beteuerte er wiederholt gegenüber Zwischenrufern.

Brückenbauer?

Uwe Becker, bis 2021 Bürgermeister der Stadt Frankfurt, heute hoch engagierter Antisemitismus-Beauftragter des Landes Hessen (CDU), verließ während der Rede mehrmals den Saal. Währenddessen schweifte Žižek von Themen wie der eigenen Mein Kampf-Lektüre ("Man muss die Story kennen!") hinüber zu den einst glühenden Vertretern eines "antisemitischen Zionismus": unter ihnen spätere führende Nazi-Chargen wie Reinhard Heydrich. Žižek habe Brücken gebaut: als er einmal half, in Ramallah eine Walter-Benjamin-Tagung abzuhalten.

Wichtiger noch: In seiner Eigenschaft als Sowohl-als-auch-Redner schien der Gastredner den ihm entgegengebrachten Widerspruch durchaus zu genießen. Als ihm Becker vorwarf, Terror (Hamas) mit Politik (Israels Regierung) gleichzusetzen, adressierte Žižek das Publikum direkt: "Jetzt sehen Sie, was es praktisch heißt, Diversität anzuhören!" Žižek monierte weiters, dass "manche Leute" aus der Vielfalt ausgeschlossen würden. Der Festredner endete sprunghaft: "Ich vergleiche nichts, was nicht vergleichbar ist." Um es dennoch zu tun. Und ein "Analyseverbot" zu konstatieren.

Heute stoßen selbst geübte Debattenbeiträger wie Slavoj Žižek an Grenzen ihrer schier unendlichen Beredsamkeit. Insbesondere in Deutschland wecken Hinweise auf den Status der Palästinenser im Heiligen Land umgehend Verdacht. "Der komplexe Hintergrund der Situation" in Palästina rechtfertigt jeden Beschreibungsaufwand. Umgekehrt verträgt die Wirkung, die der barbarische Hamas-Terror auf die kollektive Psyche der Israelis geübt hat, kein relativierendes Wort; zum jetzigen Zeitpunkt schon gar nicht.

Deutschland hat – in keineswegs geradliniger Entwicklung – die Räson seiner eigenen Staatlichkeit mit derjenigen Israels unauflöslich verquickt. Die Verbundenheit zum Staat der Juden bildet seit langem ein vitales Element deutschen Selbstverständnisses. Sie besichert das Projekt, die deutsche Vergangenheit und die Verantwortung für den Holocaust zu "bewältigen". 2008 hielt die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel jene ausschlaggebende Rede in der Knesset, in der sie Israels Unantastbarkeit als höchstes Kalkül ihres eigenen Landes bezeichnete.

Eine Art Haarriss

Seitdem zieht sich wie ein Haarriss die Frage durch nicht nur innerdeutsche Debatten, an welchem Punkt legitime Israel-Kritik endet – und anfängt, in Antisemitismus umzuschlagen. Der Bundestag beschloss 2019, die antiisraelische BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) zu verurteilen. Nicht erst seit damals zeigen sich "hommes engagés" wie der genannte Uwe Becker als kompromisslose Verteidiger der israelischen Sache.

Das eine Mal fordern sie die Ausladung von BDS-Sympathisanten als Tagungsteilnehmern – ein anderes Mal das Verbot eines Roger-Waters-Konzertes. Der greise Ex-Pink-Floyd-Bassist vertritt seit geraumer Zeit krude Thesen zum Nahostkonflikt. Und unterstellt Juden einen Hang zur Geschäftemacherei.

Meron Mendel, Direktor der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt, spricht von Scheintabus: Wer behaupte, Israel dürfe in Deutschland nicht kritisiert werden, möchte, so Mendel, "in der Regel seinen antisemitischen Vorstellungen freien Lauf lassen". Juden würden so erst recht wieder mit Stereotypen belegt: als Täter und Strippenzieher. (Ronald Pohl, 18.10.2023)